434 Götzen-Dämmerung
ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere,
faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar! als die
eines deutschen Durchschnitts-Protestanten?... Das nenne ich mir ein beschei-
denes Christenthum! eine Homöopath(ie) des Christenthums nenne ichs!" Im
zeitgenössischen Konversationslexikon wird Homöopathie wie folgt bestimmt:
„ein von Samuel Hahnemann ([...]) erfundenes Heilsystem, dessen Name nur
zu verstehen ist, sobald man das Hauptprinzip der H. begriffen hat. Dieses
Prinzip geht von dem Dogma aus, daß jedes Heilmittel im gesunden Körper
eine Krankheit hervorrufe, wie solche auch selbständig entstehen kann, und
daß es darauf ankomme, eine jede Krankheit durch das ihr ähnliche (homoios)
Mittel (similia similibus) zu bekämpfen." (Meyer 1885-1892, 8, 697).
10-11
In W II 5, 165 lautet eine Variante zu 117, 19-119, 8 (hier zunächst in der
ursprünglichen Fassung wiedergegeben): „Was bedeutet der Gegensatz ,dio-
nysisch' und ,apollinisch', beide als Arten des Rausches verstanden?
Letzteres hat vor allem das Auge erregt: so daß es die Kraft der Vision
bekommt. Ersteres erregt das gesammte Affekt-System: so daß es die Kraft
der Transfiguration, Darstellens, Verwandlung, Schauspielerei und Tanzbewe-
gung heraustreibt... das Wesentliche ist die Kraft der Metamorphose: so daß
der Affekt leicht angedeutet, sofort zur Realität fortgeht... / Musik ist gleichsam
nur eine Abstraktion jenes viel volleren Ausdrucks der Affekt-Entladung...
ein residuum des Histrionismus: man hat eine Anzahl Sinne, vor allem den
Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens); so daß der Mensch nicht mehr
Alles, was er fühlt, nachahmt und darstellt. Trotzdem ist Ersteres der eigentli-
che dionysische Gesammtzustand: die Musik ist eine langsam erreichte Ver-
stärkung auf Kosten anderer dionysischer Künste / (D)er Schauspieler und
der Musiker sind grundverwandt und an sich Eins: aber spezialisirt bis
zum Mißverständniß voneinander^) der Lyriker wiederum hat sich einem
Musiker vereinigt: an sich sind beide Eins. / (D)er Architekt stellt eine große
Nützlichkeit in ihrer überzeugendsten und stolzesten Form dar[...]: in dem Bau
soll sich die Macht, der Wille zur Macht versichtbaren. Eine Beredsamkeit der
Seele in großen Linien... / Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit
und die Wollust eingerechnet: sie fehlt meist im apollinischen. Es muß noch
eine tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben... Die extreme Ruhe
gewisser Rauschempfindungen spiegelt sich hinein in die Vision der
ruhigsten Gebärden und Seelen-Acte. Der klassische Stil (stellt) wesentlich
diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Concentration dar / Der Natur-
ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere,
faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar! als die
eines deutschen Durchschnitts-Protestanten?... Das nenne ich mir ein beschei-
denes Christenthum! eine Homöopath(ie) des Christenthums nenne ichs!" Im
zeitgenössischen Konversationslexikon wird Homöopathie wie folgt bestimmt:
„ein von Samuel Hahnemann ([...]) erfundenes Heilsystem, dessen Name nur
zu verstehen ist, sobald man das Hauptprinzip der H. begriffen hat. Dieses
Prinzip geht von dem Dogma aus, daß jedes Heilmittel im gesunden Körper
eine Krankheit hervorrufe, wie solche auch selbständig entstehen kann, und
daß es darauf ankomme, eine jede Krankheit durch das ihr ähnliche (homoios)
Mittel (similia similibus) zu bekämpfen." (Meyer 1885-1892, 8, 697).
10-11
In W II 5, 165 lautet eine Variante zu 117, 19-119, 8 (hier zunächst in der
ursprünglichen Fassung wiedergegeben): „Was bedeutet der Gegensatz ,dio-
nysisch' und ,apollinisch', beide als Arten des Rausches verstanden?
Letzteres hat vor allem das Auge erregt: so daß es die Kraft der Vision
bekommt. Ersteres erregt das gesammte Affekt-System: so daß es die Kraft
der Transfiguration, Darstellens, Verwandlung, Schauspielerei und Tanzbewe-
gung heraustreibt... das Wesentliche ist die Kraft der Metamorphose: so daß
der Affekt leicht angedeutet, sofort zur Realität fortgeht... / Musik ist gleichsam
nur eine Abstraktion jenes viel volleren Ausdrucks der Affekt-Entladung...
ein residuum des Histrionismus: man hat eine Anzahl Sinne, vor allem den
Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens); so daß der Mensch nicht mehr
Alles, was er fühlt, nachahmt und darstellt. Trotzdem ist Ersteres der eigentli-
che dionysische Gesammtzustand: die Musik ist eine langsam erreichte Ver-
stärkung auf Kosten anderer dionysischer Künste / (D)er Schauspieler und
der Musiker sind grundverwandt und an sich Eins: aber spezialisirt bis
zum Mißverständniß voneinander^) der Lyriker wiederum hat sich einem
Musiker vereinigt: an sich sind beide Eins. / (D)er Architekt stellt eine große
Nützlichkeit in ihrer überzeugendsten und stolzesten Form dar[...]: in dem Bau
soll sich die Macht, der Wille zur Macht versichtbaren. Eine Beredsamkeit der
Seele in großen Linien... / Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit
und die Wollust eingerechnet: sie fehlt meist im apollinischen. Es muß noch
eine tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben... Die extreme Ruhe
gewisser Rauschempfindungen spiegelt sich hinein in die Vision der
ruhigsten Gebärden und Seelen-Acte. Der klassische Stil (stellt) wesentlich
diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Concentration dar / Der Natur-