436 Götzen-Dämmerung
„Apollinisch, dionysisch / III / Es giebt zwei Zustände, in denen die
Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend,
ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andererseits als Zwang zum
Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben, nur schwächer, im
Traum und im Rausch, wie in -/ Aber derselbe Gegensatz besteht noch
zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten,
jeder aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der
Rausch die [...] Gebärde, die Leidenschaft, den Gesang, den Tanz." Vgl. NL
1888, KSA 13, 14[18], 226 (KGW IX 8, W II 5, 182, 44-50-183, 31-40). Der Erörte-
rungskontext ist hier die Retraktation von GT, der sich N. in Heft W II 5 im
Frühjahr 1888 widmet (ebd., 14 [14]-14 [26]; KGW IX 8, W II 5, 178-183). Galton
1883, 155-177 diskutiert Visionen (in Abgrenzung von Illusionen und Halluzina-
tionen) sehr ausgiebig; sie werden nicht als pathologische Zustände begriffen.
Die Nähe von Vision und Traum sowie die Praktik des Verknüpfens sind für
Galtons Darstellungen ebenfalls charakteristisch: „Visions, like dreams, are
often mere patchworks built up of bits of recollections." (Ebd., 173).
117, 20-22 Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-
Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begrif-
fen?] Die Pointe dieser Stelle liegt darin, dass sie den Gegensatz oder doch
die Exemplifikation des Gegensatzes zwischen dem Apollinischen und dem
Dionysischen, wie er in der Geburt der Tragödie propagiert wurde, gerade kas-
siert: „Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns
zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches"
(GT 1, KSA 1, 26, 3-5). Diesen Gegensatz hält noch das oben mitgeteilte Notat
NL 1888, KSA 13, 14[36], 235 f. (KGW IX 8, W II 5, 175, 29-42) aufrecht. Die
Zuordnung sowohl des Apollinischen wie des Dionysischen an unterschiedli-
che Formen des Rausches ist systematisch dann allerdings zwingend, wenn
man für das Kunstschaffen den Rausch zur Vorbedingung erklärt und zugleich
erklären will, wie es auch einen vorwiegend apollinischen Künstler geben
kann — den Augenkünstler, den Visionär. Es gibt demnach nicht mehr länger
die Dichotomie zwischen „apollinischem Traumkünstler" und „dionysischem
Rauschkünstler" (GT 2, KSA 1, 30, 30 f.), sondern alle beide sind Rauschkünst-
ler. Womöglich muss nun jeder Künstler „zugleich Rausch- und Traumkünst-
ler" sein, wie das GT 2, KSA 1, 30, 32 nur für den tragischen Künstler festge-
schrieben hat. N. deutet also nicht nur das Idealistische und das Klassische
nach seinen momentanen Argumentationszwecken um (siehe NK 116, 22-27),
sondern auch das Gegensatzpaar, von dem er behauptet, er habe es selbst in
die Ästhetik eingeführt — eine Äußerung, mit der er sich zugleich intellektuel-
les Verfügungs- und Transformationsrecht sichert (vgl. auch Djuric 1985, 265 u.
NWB 1, 620). Von einer derart umgestaltenden Rezeption haben freilich auch
„Apollinisch, dionysisch / III / Es giebt zwei Zustände, in denen die
Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend,
ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andererseits als Zwang zum
Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben, nur schwächer, im
Traum und im Rausch, wie in -/ Aber derselbe Gegensatz besteht noch
zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten,
jeder aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der
Rausch die [...] Gebärde, die Leidenschaft, den Gesang, den Tanz." Vgl. NL
1888, KSA 13, 14[18], 226 (KGW IX 8, W II 5, 182, 44-50-183, 31-40). Der Erörte-
rungskontext ist hier die Retraktation von GT, der sich N. in Heft W II 5 im
Frühjahr 1888 widmet (ebd., 14 [14]-14 [26]; KGW IX 8, W II 5, 178-183). Galton
1883, 155-177 diskutiert Visionen (in Abgrenzung von Illusionen und Halluzina-
tionen) sehr ausgiebig; sie werden nicht als pathologische Zustände begriffen.
Die Nähe von Vision und Traum sowie die Praktik des Verknüpfens sind für
Galtons Darstellungen ebenfalls charakteristisch: „Visions, like dreams, are
often mere patchworks built up of bits of recollections." (Ebd., 173).
117, 20-22 Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-
Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begrif-
fen?] Die Pointe dieser Stelle liegt darin, dass sie den Gegensatz oder doch
die Exemplifikation des Gegensatzes zwischen dem Apollinischen und dem
Dionysischen, wie er in der Geburt der Tragödie propagiert wurde, gerade kas-
siert: „Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns
zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches"
(GT 1, KSA 1, 26, 3-5). Diesen Gegensatz hält noch das oben mitgeteilte Notat
NL 1888, KSA 13, 14[36], 235 f. (KGW IX 8, W II 5, 175, 29-42) aufrecht. Die
Zuordnung sowohl des Apollinischen wie des Dionysischen an unterschiedli-
che Formen des Rausches ist systematisch dann allerdings zwingend, wenn
man für das Kunstschaffen den Rausch zur Vorbedingung erklärt und zugleich
erklären will, wie es auch einen vorwiegend apollinischen Künstler geben
kann — den Augenkünstler, den Visionär. Es gibt demnach nicht mehr länger
die Dichotomie zwischen „apollinischem Traumkünstler" und „dionysischem
Rauschkünstler" (GT 2, KSA 1, 30, 30 f.), sondern alle beide sind Rauschkünst-
ler. Womöglich muss nun jeder Künstler „zugleich Rausch- und Traumkünst-
ler" sein, wie das GT 2, KSA 1, 30, 32 nur für den tragischen Künstler festge-
schrieben hat. N. deutet also nicht nur das Idealistische und das Klassische
nach seinen momentanen Argumentationszwecken um (siehe NK 116, 22-27),
sondern auch das Gegensatzpaar, von dem er behauptet, er habe es selbst in
die Ästhetik eingeführt — eine Äußerung, mit der er sich zugleich intellektuel-
les Verfügungs- und Transformationsrecht sichert (vgl. auch Djuric 1985, 265 u.
NWB 1, 620). Von einer derart umgestaltenden Rezeption haben freilich auch