Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 124-125 465
in's Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das
Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahr-
heit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der „Verneinung" oder der Vernei-
nungs-Bedürftigkeit des „Willens" interpretirt] Schopenhauer erscheint so als
Erbe des Christentums (vgl. 125, 19 f.), der aber immerhin noch die großen
Kulturtatsachen habe würdigen können im Sinn des Nihilismus, nämlich als
Ausdruck des Bedürfnisses nach Erlösung (125, 20-22). Während N. die Urteile
über Schönheit und Hässlichkeit auf eine physiologische Grundlage stellen will
und sie aus dem Bedürfnis einer Daseinsbejahung herleitet, optierte Schopen-
hauer für die genau entgegengesetzte Position. Sie macht es notwendig, ihn
hier in die Diskussion einzubeziehen und ihn zugleich mit Goethe, Hegel und
Heine selbst als eine Kulturerscheinung hinzustellen, durch die das in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 17 vorgeschlagene Verfahren eingeübt werden
kann, nämlich durch äußerste Widerwärtigkeit und Widerstand sich zur
Daseinsbejahung zu motivieren. Der Bezug auf Schopenhauer hat also eine
analytisch-diagnostische und eine therapeutische Seite. Den Weg der Willens-
verneinung schildert Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung I 4,
§ 68 (Schopenhauer 1873-1874, 2, 446-471 — diverse Lesespuren N.s, NPB 540).
Die Wendung „Wille zur Wahrheit" benutzt N. im Spätwerk häufig, um
Illusionen einer noch immer von metaphysischen Hoffnungen geschwängerten
Welt- und Selbstsicht zu umreißen. Besonders prominent behandelt er den
„unbedingte[n] Wille[n] zur Wahrheit" im fünften Buch der Fröhlichen Wissen-
schaft, sowohl als „Wille[n], sich nicht täuschen zu lassen" als auch
als „Wille[n], nicht zu täuschen" (FW 344, KSA 3, 575, 18-20). Diese Pas-
sage bezieht sich auf einen „Der Wille zur Wahrheit" betitelten Abschnitt
im Descartes-Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie, der
den Willen in Descartes' Meditationes zur Quelle sowohl der „Selbsttäuschung"
als auch der „Selbstkritik", sowohl der Wahrheit als auch des Irrtums erklärt
(Fischer 1865, 1, 361).
125, 9 die Exuberanz-Formen des Lebens] Vgl. NK KSA 6, 27, 26 f.
22
125, 29-32 Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom „Brennpunkte des Wil-
lens", von der Geschlechtlichkeit, — in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb
verneint...] Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I 4, § 60:
„Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des
Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten
in's Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das
Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahr-
heit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der „Verneinung" oder der Vernei-
nungs-Bedürftigkeit des „Willens" interpretirt] Schopenhauer erscheint so als
Erbe des Christentums (vgl. 125, 19 f.), der aber immerhin noch die großen
Kulturtatsachen habe würdigen können im Sinn des Nihilismus, nämlich als
Ausdruck des Bedürfnisses nach Erlösung (125, 20-22). Während N. die Urteile
über Schönheit und Hässlichkeit auf eine physiologische Grundlage stellen will
und sie aus dem Bedürfnis einer Daseinsbejahung herleitet, optierte Schopen-
hauer für die genau entgegengesetzte Position. Sie macht es notwendig, ihn
hier in die Diskussion einzubeziehen und ihn zugleich mit Goethe, Hegel und
Heine selbst als eine Kulturerscheinung hinzustellen, durch die das in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 17 vorgeschlagene Verfahren eingeübt werden
kann, nämlich durch äußerste Widerwärtigkeit und Widerstand sich zur
Daseinsbejahung zu motivieren. Der Bezug auf Schopenhauer hat also eine
analytisch-diagnostische und eine therapeutische Seite. Den Weg der Willens-
verneinung schildert Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung I 4,
§ 68 (Schopenhauer 1873-1874, 2, 446-471 — diverse Lesespuren N.s, NPB 540).
Die Wendung „Wille zur Wahrheit" benutzt N. im Spätwerk häufig, um
Illusionen einer noch immer von metaphysischen Hoffnungen geschwängerten
Welt- und Selbstsicht zu umreißen. Besonders prominent behandelt er den
„unbedingte[n] Wille[n] zur Wahrheit" im fünften Buch der Fröhlichen Wissen-
schaft, sowohl als „Wille[n], sich nicht täuschen zu lassen" als auch
als „Wille[n], nicht zu täuschen" (FW 344, KSA 3, 575, 18-20). Diese Pas-
sage bezieht sich auf einen „Der Wille zur Wahrheit" betitelten Abschnitt
im Descartes-Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie, der
den Willen in Descartes' Meditationes zur Quelle sowohl der „Selbsttäuschung"
als auch der „Selbstkritik", sowohl der Wahrheit als auch des Irrtums erklärt
(Fischer 1865, 1, 361).
125, 9 die Exuberanz-Formen des Lebens] Vgl. NK KSA 6, 27, 26 f.
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125, 29-32 Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom „Brennpunkte des Wil-
lens", von der Geschlechtlichkeit, — in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb
verneint...] Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I 4, § 60:
„Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des
Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten