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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0503
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484 Götzen-Dämmerung

Mensch, sofern er wünscht... Sieht er den Menschen nur in seinem Thun,
sieht er dieses tapferste, ausdauerndste, listigste Thier im Kampfe mit labyrin-
thischen Nothlagen, wie bewunderungswürdig erscheint ihm der Mensch! Aber
der Philosoph verachtet den wünschenden Menschen, auch den wünschbaren
Menschen — und überhaupt alle seine wünschbaren Dinge, alle ,Ideale' des
Menschen. Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde er es sein, weil
er hinter allen Idealen des Menschen das Nichts findet: oder vielmehr noch
nicht einmal das Nichts, — sondern nur das Nichtswürdige, das Absurde, das
Kurze, das Armselige, das Süßliche, das Feige, das Müde, alle Art Hefen aus
dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens... Der Mensch, der als Realität
so verehrungswürdig ist: wie kommt es, daß er so wenig Achtung einflößt,
wenn er wünscht? Ist es, daß die ungeheure Kopf- und Willens-Anspannung,
welche das Thun von ihm erheischt, mit einem um so köpf- und willenlöseren
Ausstrecken im Imaginären bezahlen muß? Die Geschichte der menschlichen
Wünschbarkeiten ist die partie honteuse in der Geschichte des Menschen; eine
lange Vergegenwärtigung seiner Ideale könnte selbst mit einem Ekel am Men-
schen enden. Aber seine Realität rechtfertigt ihn und wird ihn ewig rechtferti-
gen: denn der wirkliche Mensch ist unendlich viel mehr werth als ein bisher
gewünschter, erträumter, zurechtgezogener und -gelogener Mensch, — als
irgend ein idealer Mensch. / Und nur der ,ideale Mensch' geht uns Philoso-
phen wider den Geschmack. // Der Egoismus ist so viel werth als der physiolo-
gisch werth ist, der ihn hat. — Jeder Einzelne ist nicht nur, wie ihn die Moral
nimmt, jenes Etwas, das mit der Geburt beginnt: er ist die ganze Linie der
Entwicklung bis zu ihm hin. Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so
ist in der That sein Werth außerordentlich groß. Die Sorge um Erhaltung und
Begünstigung seines Wachsthums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in
ihm verheißne Zukunft des Menschen, welche dem wohlgerathenen Einzelnen
ein so außerordentliches Recht auf Egoismus giebt.) Stellt er die abstei-
gende Entwicklung, den Verfall, die chronische Erkrankung dar (- Krankhei-
ten sind, im Großen gerechnet, bloß Folgeerscheinungen des Verfalls, nicht
dessen Ursachen) so kommt ihm wenig Werth zu; und die erste Billigkeit will,
daß er so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathnen
wegnimmt. Ein Thier verkriecht sich in einem solchen Falle in seine Höhle.
Die Gesellschaft hat hier die Niederhaltung des Egoismus (der mitun-
ter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert —) zur Aufgabe, handele es
sich um Einzelne oder um ganze verkommene Volksschichten. Eine Lehre und
Religion der ,Liebe', der Demuth und Selbstverneinung, des Duldens, Tragens,
Helfens, der Gegenseitigkeit in That und Wort kann innerhalb solcher Schich-
ten vom höchsten Werthe sein, selbst mit dem Auge der Herrschenden gemes-
sen: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Neides, des ressentiment —
 
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