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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0506
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Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 130-131 487

des Menschen.] „Ideal", jener Begriff, der für zu Bekämpfendes in N.s Spätwerk
häufig wiederkehrt, wird hier als „Wünschbarkeit" definiert, also als Wunsch-
projektion, wie der Mensch, das Leben, die Welt sein sollen. Vgl. NK 61, 4 f.
131, 7-9 Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde er es sein, weil
er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen findet.] Der immoralistische
Philosoph kann offenbar — sehr im Unterschied zum traditionellen Philoso-
phen — vgl. GD Die „Vernunft" in der Philosophie, KSA 6, 74-79 — eben nicht
Nihilist sein, so sehr er die Hohlheit hinter den Idealen erkennt, vgl. GD Vor-
wort.
131, 11 f. alle Art Hefen aus dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens...]
„Er hat den Becher bis auf die Hefe ausgetrunken" (Wander 1867-1880, 1, 287)
lautet eine in vielen Sprachen gebräuchliche Redensart, die bedeutet, jemand
koste alle Widerwärtigkeiten bis zum Ende aus, und zwar nach Psalm 75, 9:
„Denn der HErr hat einen Becher in der Hand, und mit starkem Wein voll
eingeschenket, und schenket aus demselben; aber die Gottlosen müssen alle
trinken und die Hefen aussaufen." Die Wendung „Becher des Lebens" (vgl.
auch M 552, KSA 3, 322, 18) ist zu N.s Zeit als Redensart weit verbreitet, vgl.
z. B. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1. Fassung 1854/55) III 6: „Heinrich
trieb sich überall umher und vergaß sich selber; er war [...] neugierig und
begierig, erst recht in den glänzenden Becher des Lebens zu schauen." (Keller
1958-1961, 3, 610) Goethes Ballade Der König in Thule (1774) schreibt die Ver-
bindung von Leben und Becher(leeren) motivisch fest. Die Metapher vom
„Bodensatz" des Bechers benutzt N. in MA II WS 219, KSA 2, 653, 16 f. auch in
anderem Zusammenhang. Über den Spätzeit-Musiker (Wagner) heißt es in FW
87, KSA 3, 445, 12-16: „er schöpft am glücklichsten von Allen aus dem unteren
Grunde des menschlichen Glückes und gleichsam aus dessen ausgetrunkenem
Becher, wo die herbsten und widrigsten Tropfen zu guter- und böserletzt mit
den süssesten zusammengelaufen sind" (vgl. NW Wo ich bewundere, KSA 6,
417, 17-21). Das Becher-Motiv kommt im Za-Kontext häufiger vor.
131, 17-19 Die Geschichte seiner Wünschbarkeiten war bisher die partie hon-
teuse des Menschen: man soll sich hüten, zu lange in ihr zu lesen.] Wobei N. als
Götzenaushorcher in GD genau dies unentwegt tut.
131, 18 partie honteuse] Meyer 1885-1892, 12, 748: „Partie honteuse (franz. [...]),
Schandfleck; in der Mehrzahl s[o] v[iel] w[ie] Schamteile." Vgl. auch GM I 1,
KSA 5, 257 wonach die „englischen Psychologen" bei ihrer Rekonstruktion der
„Entstehungsgeschichte der Moral" stets die „partie honteuse" des menschli-
chen Innenlebens in den Vordergrund gerückt hätten.
 
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