570 Götzen-Dämmerung
ton - Thukydides (ca. 460-396 v. Chr.), dessen Assoziation mit den Sophisten
und dessen Realitätssinn sind schon in M 168, KSA 3, 150, 30-151, 22 vorwegge-
nommen. Der Aufzeichnung NL 1883, 8[15] liegt Leopold Schmidts Ethik der
alten Griechen zugrunde. In dieser Aufzeichnung wird zweimal der Tatsachen-
sinn bemüht, zum einen „als Reaktion im Agon mit dem mythischen Sinne
gewachsen, nicht als ursprüngliche Kraft" (KSA 10, 335, 20-22), zum andern
als „Consequenz selbst des Agons" im Zusammenhang eines „Lob[s] des Thu-
kydides" (NL 1883, KSA 10, 8[15], 339, 27), vgl. NK KSA 6, 248, 1-3. Thukydides
habe, so Schmidt 1882, 2, 267, „jenes Recht des Stärkeren, das einige Sophisten
einseitig zum Ausgangspunkte ihres politischen Denkens machten, in beding-
ter Weise anerkannt[.]".
Abgesehen von der Geschichte des Peloponnesischen Krieges (vgl. die diver-
sen Ausgaben in NPB 593-598), mit der Thukydides die wissenschaftliche
Geschichtsschreibung begründete (eine Lektüre, die N. beispielsweise auch mit
seinen Schülern am Basler Pädagogium trieb), hat N. einschlägige Sekundärli-
teratur zur Kenntnis genommen, insbesondere die Habilitationsschrift Leben,
Werle und Zeitalter des Thulcydides von Wilhelm Roscher. N. hat bei dem zu
einem bedeutenden Nationalökonomen gewordenen Roscher — dem Vater
eines befreundeten Kommilitonen — in Leipzig Vorlesungen besucht und auch
mit ihm persönlich verkehrt, wie briefliche Zeugnisse belegen. Roschers Buch
über Thukydides hat er sich mehrfach aus der Basler Universitätsbibliothek
ausgeliehen (Crescenzi 1994, 392, 425 u. 426); es hat nicht nur N.s, sondern
vielleicht auch Burckhardts und mit Sicherheit Max Webers Bild von Thukydi-
des nachhaltig geprägt (Hennis 2003; zu N. und Roscher dort bes. 36 f.).
Roscher rückt Thukydides in dezidierten Gegensatz zu den moralisch-praktisch
interessierten antiken Historikern und stellt sein Interesse an der Wirklichkeits-
erkenntnis in den Vordergrund, und zwar unter Berufung auf die Geschichte
des Peloponnesischen Krieges I 22: „In ihrer handschriftlichen Gestalt ist diese
Stelle vollkommen zweideutig; die Interpunction erst kann den Sinn fixiren.
Setzt man das Komma vor avTd, so heißt es: Denen werde sein Buch Genüge
thun, welche die Vergangenheit klar erkennen, für die Zukunft aber nützliche
Lehren daraus ziehen wollen. Auf diese Art haben schon Polybios und Lukian
die Stelle ausgelegt. Setzt man aber das Komma hinter am, so wird der Satz
von jenem praktischen Zwecke vollkommen gereinigt. Es genügt alsdann dem
Thukydides, wenn Diejenigen sein Buch für nützlich erklären, wel-
che Vergangenheit und Zukunft klar durchschauen wollen: denn die Zukunft
pflege nach menschlicher Weise der Vergangenheit ähnlich wiederzukehren. —
Ich könnte mich zur Unterstützung meiner Interpretation immerhin auf den
ganzen Charakter des Thukydides berufen. Glücklicherweise liegt aber auch
eine einzelne, ganz analoge Aeußerung nicht ferne. Im Anfänge nämlich von
ton - Thukydides (ca. 460-396 v. Chr.), dessen Assoziation mit den Sophisten
und dessen Realitätssinn sind schon in M 168, KSA 3, 150, 30-151, 22 vorwegge-
nommen. Der Aufzeichnung NL 1883, 8[15] liegt Leopold Schmidts Ethik der
alten Griechen zugrunde. In dieser Aufzeichnung wird zweimal der Tatsachen-
sinn bemüht, zum einen „als Reaktion im Agon mit dem mythischen Sinne
gewachsen, nicht als ursprüngliche Kraft" (KSA 10, 335, 20-22), zum andern
als „Consequenz selbst des Agons" im Zusammenhang eines „Lob[s] des Thu-
kydides" (NL 1883, KSA 10, 8[15], 339, 27), vgl. NK KSA 6, 248, 1-3. Thukydides
habe, so Schmidt 1882, 2, 267, „jenes Recht des Stärkeren, das einige Sophisten
einseitig zum Ausgangspunkte ihres politischen Denkens machten, in beding-
ter Weise anerkannt[.]".
Abgesehen von der Geschichte des Peloponnesischen Krieges (vgl. die diver-
sen Ausgaben in NPB 593-598), mit der Thukydides die wissenschaftliche
Geschichtsschreibung begründete (eine Lektüre, die N. beispielsweise auch mit
seinen Schülern am Basler Pädagogium trieb), hat N. einschlägige Sekundärli-
teratur zur Kenntnis genommen, insbesondere die Habilitationsschrift Leben,
Werle und Zeitalter des Thulcydides von Wilhelm Roscher. N. hat bei dem zu
einem bedeutenden Nationalökonomen gewordenen Roscher — dem Vater
eines befreundeten Kommilitonen — in Leipzig Vorlesungen besucht und auch
mit ihm persönlich verkehrt, wie briefliche Zeugnisse belegen. Roschers Buch
über Thukydides hat er sich mehrfach aus der Basler Universitätsbibliothek
ausgeliehen (Crescenzi 1994, 392, 425 u. 426); es hat nicht nur N.s, sondern
vielleicht auch Burckhardts und mit Sicherheit Max Webers Bild von Thukydi-
des nachhaltig geprägt (Hennis 2003; zu N. und Roscher dort bes. 36 f.).
Roscher rückt Thukydides in dezidierten Gegensatz zu den moralisch-praktisch
interessierten antiken Historikern und stellt sein Interesse an der Wirklichkeits-
erkenntnis in den Vordergrund, und zwar unter Berufung auf die Geschichte
des Peloponnesischen Krieges I 22: „In ihrer handschriftlichen Gestalt ist diese
Stelle vollkommen zweideutig; die Interpunction erst kann den Sinn fixiren.
Setzt man das Komma vor avTd, so heißt es: Denen werde sein Buch Genüge
thun, welche die Vergangenheit klar erkennen, für die Zukunft aber nützliche
Lehren daraus ziehen wollen. Auf diese Art haben schon Polybios und Lukian
die Stelle ausgelegt. Setzt man aber das Komma hinter am, so wird der Satz
von jenem praktischen Zwecke vollkommen gereinigt. Es genügt alsdann dem
Thukydides, wenn Diejenigen sein Buch für nützlich erklären, wel-
che Vergangenheit und Zukunft klar durchschauen wollen: denn die Zukunft
pflege nach menschlicher Weise der Vergangenheit ähnlich wiederzukehren. —
Ich könnte mich zur Unterstützung meiner Interpretation immerhin auf den
ganzen Charakter des Thukydides berufen. Glücklicherweise liegt aber auch
eine einzelne, ganz analoge Aeußerung nicht ferne. Im Anfänge nämlich von