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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0592
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Stellenkommentar GD Alten, KSA 6, S. 156-157 573

nossen, dort freilich als Umwelt, Umgebung verstanden, vgl. NK 145, 25-28. N.
benutzt die „goldene Mitte" noch in M 192, KSA 3, 165, 23 zur Charakterisierung
Fenelons.
Der Begriff der Einfalt (dnÄÖTqg bzw. simplicitas) wird in der Tradition
sowohl abschätzig im Sinne von Beschränktheit verwendet als auch positiv im
Sinne von Einfachheit, Ganzheit. Friedrich Schiller versucht sich in Über naive
und sentimentalische Dichtung (1800) an einer Rehabilitierung der Einfalt, und
bei Friedrich Hölderlin lautet in pietistischer Tradition die fünfte Strophe sei-
nes Gedichts An die Vollendung (V. 21-24): „Voll hoher Einfalt, / Einfältig still
und groß / Rangen des Siegs gewiß, / Rangen dir zu die Väter." Auf Winckel-
mann geht bekanntlich das auch von N. im Frühwerk aufgenommene Schlag-
wort von der „edlen Einfalt und stillen Größe" der Griechen zurück (vgl. NK
KSA 1, 155, 27-156, 3): „Die edle Einfalt und stille Grösse der griechischen
Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den
besten Zeiten, der Schriften aus Socrates Schule; und diese Eigenschaften sind
es, welche die vorzügliche Grösse eines Raphaels machen, zu welcher er durch
die Nachahmung der Alten gelanget ist." (Winckelmann 1756, 24. Dass Winckel-
mann ausgerechnet Sokrates und Raphael mit dieser „edlen Einfalt und stillen
Grösse" assoziiert, dürfte N. als zusätzlichen Fehlgriff empfunden haben.) Aber
auch die „hohe Einfalt" fehlt bei Winckelmann nicht: In seiner Geschichte der
Kunst des Alterthums gilt als „Kennzeichen" der dem griechischen Bildhauer
Praxiteles zugeschriebenen Niobe-Figurengruppen schließlich „der gleichsam
unerschaffene Begriff der Schönheit, vornemlich aber die hohe Einfalt, sowohl
in der Bildung der Köpfe, als in der ganzen Zeichnung, in der /240/ Kleidung,
und in der Ausarbeitung" (Winckelmann 1812, 239 f.).
157, 5 niaiserie allemande] Französisch: „deutsche Einfalt", „deutsche Albern-
heit". Vgl. JGB 11, KSA 5, 24, 29. N. hatte den Ausdruck in Prosper Merimees
Lettres ä une inconnue gefunden: „Je lis Wilhelm Meister, ou je le relis. C'est
un etrange livre, oü les plus belles choses du monde alternent avec les enfantil-
lages les plus ridicules. Dans tout ce qu'a fait Goethe, il y a un melange de
genie et de niaiserie allemande des plus singuliers: se moquait-il de lui-meme
ou des autres? Faites-moi penser ä vous donner ä lire ä mon retour, les Affinites
electives. C'est, je crois, ce qu'il a fait de plus bizarre et de plus antifrangais"
(Merimee o. J., 2, 152. „Ich lese Wilhelm Meister oder ich lese ihn wieder. Dies
ist ein sonderbares Buch, wo die schönsten Dinge der Welt sich mit lächerlichs-
ten Kindereien abwechseln. In allem, was Goethe gemacht hat, gibt es eine
Mischung von Genie und einzigartiger deutscher Einfalt: Hat er sich über sich
selbst oder über die anderen lustig gemacht? Erinnern Sie mich daran, Ihnen
bei meiner Rückkehr die Wahlverwandtschaften zum Lesen zu geben. Ich
 
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