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Ernst Hoffmann:
werden. Es wäre nach Platonischen Voraussetzungen ganz un-
möglich, den Begriff der Seele etwa definitorisch1 nach Art oder
Grad einer Seinsstufe zu bestimmen, die dem Psychischen als
solchem von Natur eigne; sondern was zu ‘bestimmen’ ist an der
Seele, das ist lediglich erstens ihr jeweiliges Verhältnis zu den
Phantasmen, zu den Ideen und zu Gott, und zweitens ihre Aufgabe,
aus diesem Verhältnis unter ‘Mühen und Schwierigkeiten’, durch
‘Leiden und Zeitaufwand’ einen ‘Weg’ zu gestalten2, auf dem sie
sich von den Phantasmen und Idolen abwendet, nach grundsätz-
licher Umwandlung ihrer Beschaffenheit die Ideale nicht mehr
aus der Empirie abstrahiert, sondern sie durch Ausdenken des
jedesmal Besten erzeugt3, und auf diese Weise ihr eidologisches
Denken durch das göttlich Gute geleitet sein läßt. Die Seele ‘ist’
weder Erscheinung noch Idee noch Gott, und sie kann auch keines
von den dreien wirklich werden. Aber es ist erstens wörtlich zu
nehmen, daß ‘in’ ihr Erscheinungen sind; alles, was der Seele
bloß ‘scheint’, ist psychisches ‘Phänomen’ und trägt für Platon
wie für Protagoras den Charakter des subjektiven und am Einzel-
menschen haftenden psychischen Aktes4. Und es ist zweitens zu
beachten, daß und in welchem Sinne Ideen ‘in’ der Seele sind,
nicht etwa als psychisch wirkende Kräfte, sondern als diejenigen
noetischen Momente, mit denen das nicht aus Sinnesempfindung
stammende, sondern nur aus Anlaß ihrer selbständig beginnende
Denken apriorisch anhebt. (Dieselbe Sinnesempfindung ist z. B.
für die Aufnahme des Schweren und des Leichten befugt, aber die
Empfindung gibt der Seele keine ‘Kunde’, welches die Bedeutung
des Schweren und des Leichten sei, und ob ein Schweres Eins oder
Zwei sei, und in welchem Maße es schwer sei, und was das Mehr
und Minder, der Gegensatz und die Verschiedenheit bedeute. Bei
solcher Sachlage der Empfindungsvermögen muß die Seele die
Vernunft zu Hilfe rufen, die im Gegensatz zur Empfindung Begriff-
liches trennt und verbindet und so, auf Ideen der Belation und des
Maßes sich stützend, zu eigener und unsinnlicher Erkenntnis
1 In diesem Sinne definitorisch konnte Aristoteles in der Psychologie
verfahren, aber nicht Platon. De an. 408b 13: die Seele etwas, was ist, nicht
was wird.
2 Die Seele ist das, was jeden zu dem macht, was er ist, vgl. Legg. XII,
959a. Über Weg und Leiden vgl. u. a. Soph. 234 d.
3 Zum Begriff des wahren Ideals Resp. 484c.
4 Vgl. Theaet. 152eff.
Ernst Hoffmann:
werden. Es wäre nach Platonischen Voraussetzungen ganz un-
möglich, den Begriff der Seele etwa definitorisch1 nach Art oder
Grad einer Seinsstufe zu bestimmen, die dem Psychischen als
solchem von Natur eigne; sondern was zu ‘bestimmen’ ist an der
Seele, das ist lediglich erstens ihr jeweiliges Verhältnis zu den
Phantasmen, zu den Ideen und zu Gott, und zweitens ihre Aufgabe,
aus diesem Verhältnis unter ‘Mühen und Schwierigkeiten’, durch
‘Leiden und Zeitaufwand’ einen ‘Weg’ zu gestalten2, auf dem sie
sich von den Phantasmen und Idolen abwendet, nach grundsätz-
licher Umwandlung ihrer Beschaffenheit die Ideale nicht mehr
aus der Empirie abstrahiert, sondern sie durch Ausdenken des
jedesmal Besten erzeugt3, und auf diese Weise ihr eidologisches
Denken durch das göttlich Gute geleitet sein läßt. Die Seele ‘ist’
weder Erscheinung noch Idee noch Gott, und sie kann auch keines
von den dreien wirklich werden. Aber es ist erstens wörtlich zu
nehmen, daß ‘in’ ihr Erscheinungen sind; alles, was der Seele
bloß ‘scheint’, ist psychisches ‘Phänomen’ und trägt für Platon
wie für Protagoras den Charakter des subjektiven und am Einzel-
menschen haftenden psychischen Aktes4. Und es ist zweitens zu
beachten, daß und in welchem Sinne Ideen ‘in’ der Seele sind,
nicht etwa als psychisch wirkende Kräfte, sondern als diejenigen
noetischen Momente, mit denen das nicht aus Sinnesempfindung
stammende, sondern nur aus Anlaß ihrer selbständig beginnende
Denken apriorisch anhebt. (Dieselbe Sinnesempfindung ist z. B.
für die Aufnahme des Schweren und des Leichten befugt, aber die
Empfindung gibt der Seele keine ‘Kunde’, welches die Bedeutung
des Schweren und des Leichten sei, und ob ein Schweres Eins oder
Zwei sei, und in welchem Maße es schwer sei, und was das Mehr
und Minder, der Gegensatz und die Verschiedenheit bedeute. Bei
solcher Sachlage der Empfindungsvermögen muß die Seele die
Vernunft zu Hilfe rufen, die im Gegensatz zur Empfindung Begriff-
liches trennt und verbindet und so, auf Ideen der Belation und des
Maßes sich stützend, zu eigener und unsinnlicher Erkenntnis
1 In diesem Sinne definitorisch konnte Aristoteles in der Psychologie
verfahren, aber nicht Platon. De an. 408b 13: die Seele etwas, was ist, nicht
was wird.
2 Die Seele ist das, was jeden zu dem macht, was er ist, vgl. Legg. XII,
959a. Über Weg und Leiden vgl. u. a. Soph. 234 d.
3 Zum Begriff des wahren Ideals Resp. 484c.
4 Vgl. Theaet. 152eff.