Platonismus und Mystik im Altertum.
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Vermächtnis der Antike auf das Christentum und die Scholastik
gewirkt1 und der abendländischen Menschheit weit über das Mittel-
alter hinaus bis zu den Systemen des dogmatischen Rationalismus
im 17. Jahrhundert das Gerüst der Metaphysik geliefert hat.
Gewirkt hat unmittelbar weder der echte, originale Platonis-
mus mit seiner methodischen Tmematik und seinem Bestehen
auf der Erkenntnis der övtgx; övtoc; sein Motiv, zu sittlichen
Zwecken das Wissen philosophisch zu legitimieren, wurde vielmehr
gar nicht mehr verstanden. Noch hat das Christentum rein als
solches, d. h. das Jesuserlebnis, das Ergriffenwerden vom Glauben
an Jesus als eschatologische Heilsgestalt, unmittelbar auf den
Geist und Gang der Philosophiegeschichte gewirkt. Auch jede der
drei besprochenen Formen des konvertierten Platonismus hat,
als einzelne und für sich genommen, nur eine begrenzte Schul-
wirkung gehabt. Hingegen die in allen dreien zusammen sich aus-
sprechende gemeinsame Grundtendenz, sie hat zu jener freien
philosophischen Frömmigkeit geführt, die über alle Schulgrenzen
hinaus den gebildeten Menschen vom Hellenismus an eigen ge-
wesen ist, und deren humane, vornehme und autarke Persönlich-
keitsprägung uns durch Männer wie Seneca, Marc Aurel und Boe-
thius aufbewahrt worden ist; durch jene ‘gente di molto valore’,
von denen Dantes Vergil sagte, daß sie ‘senza speme in disicß
lebten2. Diese typisch antike Frömmigkeit war vormals bereits
erwachsen aus dem einzigartig ehrfürchtigen Verhalten des griechi-
schen Gemütes zum Kosmos: sie war genährt und aus der Dimen-
1 Auf dem Ineinander von Aristotelismus (das Absolute selber unbewegt)
und konvertiertem Platonismus (das Absolute dennoch Bewegung mitteilend)
beruht letztlich sogar das astronomische Weltbild der Spätantike und des Mit-
telalters. wie es in vollendetster Weise von Dante Paradiso II, 112 —138
unter Motivverschlingung von Aristotelismus, Neuplatonismus und arabi-
schem Einstrahlungsmotiv ausgemalt ist. — Die Kosmologie bot den ein-
zigen Fall dar, daß im Altertum genuiner Platonismus und Epikureis-
mus sich zusammentaten: Platons Annahme, daß mehr als nur eine Welt
möglich seien (Tim. 31a, 55c), und Epikurs Lehre von der unendlichen
Vielheit der Welten wirkten zusammen gegen das Aristotelisch-stoi-
sche Dogma von der Einzigkeit der Welt. Diese Bundesgenossenschaft
führte schon im Altertum zur Formulierung der Gesetze von der Sub-
stanzerhaltung und der Bewegungsrelativität (Plut. De def. or. Cap. 25
bis 27), wobei der Platonismus den qualitativen Kosmosbegriff, der Ato-
mismus den Unendlichkeitsbegriff bot. Die Renaissance knüpfte unmit-
telbar an die Plutarchischen Argumente an.
2 Inferno IV, 42.
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Vermächtnis der Antike auf das Christentum und die Scholastik
gewirkt1 und der abendländischen Menschheit weit über das Mittel-
alter hinaus bis zu den Systemen des dogmatischen Rationalismus
im 17. Jahrhundert das Gerüst der Metaphysik geliefert hat.
Gewirkt hat unmittelbar weder der echte, originale Platonis-
mus mit seiner methodischen Tmematik und seinem Bestehen
auf der Erkenntnis der övtgx; övtoc; sein Motiv, zu sittlichen
Zwecken das Wissen philosophisch zu legitimieren, wurde vielmehr
gar nicht mehr verstanden. Noch hat das Christentum rein als
solches, d. h. das Jesuserlebnis, das Ergriffenwerden vom Glauben
an Jesus als eschatologische Heilsgestalt, unmittelbar auf den
Geist und Gang der Philosophiegeschichte gewirkt. Auch jede der
drei besprochenen Formen des konvertierten Platonismus hat,
als einzelne und für sich genommen, nur eine begrenzte Schul-
wirkung gehabt. Hingegen die in allen dreien zusammen sich aus-
sprechende gemeinsame Grundtendenz, sie hat zu jener freien
philosophischen Frömmigkeit geführt, die über alle Schulgrenzen
hinaus den gebildeten Menschen vom Hellenismus an eigen ge-
wesen ist, und deren humane, vornehme und autarke Persönlich-
keitsprägung uns durch Männer wie Seneca, Marc Aurel und Boe-
thius aufbewahrt worden ist; durch jene ‘gente di molto valore’,
von denen Dantes Vergil sagte, daß sie ‘senza speme in disicß
lebten2. Diese typisch antike Frömmigkeit war vormals bereits
erwachsen aus dem einzigartig ehrfürchtigen Verhalten des griechi-
schen Gemütes zum Kosmos: sie war genährt und aus der Dimen-
1 Auf dem Ineinander von Aristotelismus (das Absolute selber unbewegt)
und konvertiertem Platonismus (das Absolute dennoch Bewegung mitteilend)
beruht letztlich sogar das astronomische Weltbild der Spätantike und des Mit-
telalters. wie es in vollendetster Weise von Dante Paradiso II, 112 —138
unter Motivverschlingung von Aristotelismus, Neuplatonismus und arabi-
schem Einstrahlungsmotiv ausgemalt ist. — Die Kosmologie bot den ein-
zigen Fall dar, daß im Altertum genuiner Platonismus und Epikureis-
mus sich zusammentaten: Platons Annahme, daß mehr als nur eine Welt
möglich seien (Tim. 31a, 55c), und Epikurs Lehre von der unendlichen
Vielheit der Welten wirkten zusammen gegen das Aristotelisch-stoi-
sche Dogma von der Einzigkeit der Welt. Diese Bundesgenossenschaft
führte schon im Altertum zur Formulierung der Gesetze von der Sub-
stanzerhaltung und der Bewegungsrelativität (Plut. De def. or. Cap. 25
bis 27), wobei der Platonismus den qualitativen Kosmosbegriff, der Ato-
mismus den Unendlichkeitsbegriff bot. Die Renaissance knüpfte unmit-
telbar an die Plutarchischen Argumente an.
2 Inferno IV, 42.