Platonismus und Mystik im Altertum.
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das eigene Selbst und das Viele und das Andere zu denken, sondern
das Eine und Viele in Identität zu schauen, ja das Viele ‘in’ Gott,
alle Zeitlichkeit in ihrem überzeitlichen Seinsquell. Das Be-
wußtsein ist über sich selbst hinaus gesteigert, die Erregung ist
bis zum Kontakt (aqd)) mit dem Absoluten gestiegen. Auch die
neuplatonische Ekstase ist, schon weil sie Vernunft-Ekstase ist,
noch weit entfernt von orientalischer Ekstatik; aber rein auf das
philosophische Problem gesehen, ist sie auf das engste verwandt
dem später in christlicher Zeit1 in unzähligen Varianten darge-
stellten Erlebnis, daß der Verzückte den Himmel aufgetan sieht,
Gott in seiner ursprünglichen Glorie und die geschöpfliche Vielheit
der Weltwesen geeint mit ihrem Ursprung. Freilich bleibt selbst
für Plotin noch Rohdes Wort2 von der Mystik als fremdem Tropfen
im griechischen Blute richtig; denn die Seele Plotins will zwar ‘über
die Wissenschaft hinausstürmen, niemals aus der Bahn der Einheit
ausbrechen und abfallen von jedem andern Anblick, mag er auch
noch so schön sein . . ., in der Erfüllung aber zeugt sie Götter in
aller Ruhe durch die Berührung mit jenem (Sein), zeugt sie Schön-
heit, Gerechtigkeit, Tugend’, d. h. noch in der Ivooge^ erzeugt ihr
Denken platonische3 votjtoc. Die Vielheit der Ideen wird also nicht
vernichtet, sondern hervorgebracht; Plotins Ekstase will immer
noch Geistesleben sein, nämlich Geistesleben in seiner urtümlichen
Einheit. Dennoch ist in der Geschichte solcher Visionen zwischen
christlichen Gefühlsekstasen und neuplatonischen Vernunfteksta-
sen, was diesen Hauptpunkt anlangt, das Viele im Einen zu schauen,
kein Unterschied. Es war in gewissem Sinne ganz zutreffend, wenn
im Mittelalter die neutestamentlichen Stellen von der Verzückung
Pauli und die neuplatonischen Gebete, in denen Erhebung zur
Stätte des Lebensquells erfleht wird, als Bezeugungen eines und
desselben religiösen Bewußtseins aufgefaßt wurden. Das helle-
1 Mit Anlehnung an neutestamentliche Stellen wie Act. 7, 55; 22, 6;
2. Cor. 12, 2 u. a.
2 E. Rohde, Kl. Sehr. II, 338. Dazu F. Boll, Vita contemplativa2
S. 6 und 25. Joh. Geffcken, Geisteskämpfe im Griechentum der Kaiserzeit,
Kant-Studien 30, 1925, S. 35. Über Proklos’ Kritik an Plotins Einung der
Seele mit dem Einen s. Zeller III, 24, S. 888.
3 Und zwar im Hinblick auf Plat. conv. 211a, 212a. Die erste Theorie
der Ekstase bei Aristoteles über den künstlerischen Menschen: Poet. 1455a
32f, Probl. 954a 24f. Über Konversion des Platonismus bei Plotin s. F.. Hei-
nemann, Die Spiegeltheorie der Materie als Korrelat der Logos-Licht-Theorie
bei Plotin. Pliilologus LXXXI, S. 1—17.
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das eigene Selbst und das Viele und das Andere zu denken, sondern
das Eine und Viele in Identität zu schauen, ja das Viele ‘in’ Gott,
alle Zeitlichkeit in ihrem überzeitlichen Seinsquell. Das Be-
wußtsein ist über sich selbst hinaus gesteigert, die Erregung ist
bis zum Kontakt (aqd)) mit dem Absoluten gestiegen. Auch die
neuplatonische Ekstase ist, schon weil sie Vernunft-Ekstase ist,
noch weit entfernt von orientalischer Ekstatik; aber rein auf das
philosophische Problem gesehen, ist sie auf das engste verwandt
dem später in christlicher Zeit1 in unzähligen Varianten darge-
stellten Erlebnis, daß der Verzückte den Himmel aufgetan sieht,
Gott in seiner ursprünglichen Glorie und die geschöpfliche Vielheit
der Weltwesen geeint mit ihrem Ursprung. Freilich bleibt selbst
für Plotin noch Rohdes Wort2 von der Mystik als fremdem Tropfen
im griechischen Blute richtig; denn die Seele Plotins will zwar ‘über
die Wissenschaft hinausstürmen, niemals aus der Bahn der Einheit
ausbrechen und abfallen von jedem andern Anblick, mag er auch
noch so schön sein . . ., in der Erfüllung aber zeugt sie Götter in
aller Ruhe durch die Berührung mit jenem (Sein), zeugt sie Schön-
heit, Gerechtigkeit, Tugend’, d. h. noch in der Ivooge^ erzeugt ihr
Denken platonische3 votjtoc. Die Vielheit der Ideen wird also nicht
vernichtet, sondern hervorgebracht; Plotins Ekstase will immer
noch Geistesleben sein, nämlich Geistesleben in seiner urtümlichen
Einheit. Dennoch ist in der Geschichte solcher Visionen zwischen
christlichen Gefühlsekstasen und neuplatonischen Vernunfteksta-
sen, was diesen Hauptpunkt anlangt, das Viele im Einen zu schauen,
kein Unterschied. Es war in gewissem Sinne ganz zutreffend, wenn
im Mittelalter die neutestamentlichen Stellen von der Verzückung
Pauli und die neuplatonischen Gebete, in denen Erhebung zur
Stätte des Lebensquells erfleht wird, als Bezeugungen eines und
desselben religiösen Bewußtseins aufgefaßt wurden. Das helle-
1 Mit Anlehnung an neutestamentliche Stellen wie Act. 7, 55; 22, 6;
2. Cor. 12, 2 u. a.
2 E. Rohde, Kl. Sehr. II, 338. Dazu F. Boll, Vita contemplativa2
S. 6 und 25. Joh. Geffcken, Geisteskämpfe im Griechentum der Kaiserzeit,
Kant-Studien 30, 1925, S. 35. Über Proklos’ Kritik an Plotins Einung der
Seele mit dem Einen s. Zeller III, 24, S. 888.
3 Und zwar im Hinblick auf Plat. conv. 211a, 212a. Die erste Theorie
der Ekstase bei Aristoteles über den künstlerischen Menschen: Poet. 1455a
32f, Probl. 954a 24f. Über Konversion des Platonismus bei Plotin s. F.. Hei-
nemann, Die Spiegeltheorie der Materie als Korrelat der Logos-Licht-Theorie
bei Plotin. Pliilologus LXXXI, S. 1—17.