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Ernst Hoffmann:
scheinbar, überhaupt möglich sind, hat vielerlei Ursachen; es
genügt, an wenige zu erinnern. Platons Vorhaben, sein Philosophie-
ren in dialogischen Kunstwerken niederzulegen, schuf zwar einer-
seits, im Gegensatz zum Lehrgedicht und zur Lehrschrift, für immer
die angemessenste Form, um der Philosophie auch in schriftlicher
Darstellung ihren Charakter zu lassen, nicht Wissen zu sein, sondern
Erzeugen von Wissen in Gemeinschaft bildendem Leben; anderer-
seits liegt in diesem Vorhaben gerade für Platon eine grundsätz-
liche Paradoxie beschlossen. Denn derselbe Mann, dessen einzig-
artige Darstellungskunst den Leser dazu erzieht, in allem Ge-
schehen ein Sinnbild zu sehen, durch welches Zeit, Werden und
Wirklichkeit im Hinblick auf Ewiges, Sein und Wahrheit deutbar
werden, scheint sein eigenes Vorhaben anzugreifen, indem er der
Schrift die Kompetenz verweigert, philosophisches Leben zu
wecken, und der Sprache das Vermögen abspricht, in ‘richtigen
Namen’ das Leben des Gedankens auszudrücken, ja sogar dem
bloßen Gedanken das Recht nimmt, schon als Philosophie zu gelten,
bevor er für das Ganze des Menschen fermgebend geworden ist* 1.
Wie sich Platons Lehrtätigkeit und seine literarische Kunst fak-
tisch zueinander verhielten, wird immer ein Rätsel bleiben2, da
wir jene nicht kennen, auch aus Aristoteles und Aristoxenos3 kein
Rild von ihr gewinnen4. Wir können nur versuchen, in Platons
einander auszuschließen pflegen, beim echten Philosophen aber einander for-
dern. In ‘Muße und Freiheit’ und in Abstand von der Geschäftigkeit des Tages
soll der reine Gedanke reifen, aus dem alsdann die Tat als adaequate Verwirk-
lichung des Gedankens folgt wie die Wirkung aus einer Ursache.
1 Gegen die Schriftstellerei Phaedo. 275eff. Gegen die sprachlichen
Bezeichnungen Resp. 533 e, Soph. 218 c. Gegen tradierbare Lehre Ep. VII,
341 e.
2 Die philosophische Lösung brachte Schillers Lehre, daß die Erziehung
des ‘physischen’ Menschen zum ‘idealischen’ durch das Medium des ‘Ästheti-
schen’ gehen müsse. Diese Theorie ist, grundsätzlich betrachtet, die Recht-
fertigung des Platonischen Kunstwerks.
3 Harm. elem. II Anfang.
4 Es kommt hinzu, daß die Platontradition vom Tode des Philosophen
an Schulgut war. Die zuerst dogmatischen, dann skeptischen, schließlich
mystischen Tendenzen der Schule wirkten, da sie auf das Motiv, Platon zu
verstehen, zurückgingen, zugleich auf das Platonbild selber zurück. So sind
wir genötigt, zu unterscheiden zwischen dem Platonbilde der Schule, zweitens
den auf Aristoteles beruhenden Berichten über seine Lehrvorträge, drittens
dem eigenen literarischen Werke Platons. Das Gewicht dieses Werkes für das
Verständnis des genuinen Platonismus beginnt, unterschätzt zu werden. Man
vergesse nicht, daß Platons literarisches Werk von einer derartigen Kohärenz
Ernst Hoffmann:
scheinbar, überhaupt möglich sind, hat vielerlei Ursachen; es
genügt, an wenige zu erinnern. Platons Vorhaben, sein Philosophie-
ren in dialogischen Kunstwerken niederzulegen, schuf zwar einer-
seits, im Gegensatz zum Lehrgedicht und zur Lehrschrift, für immer
die angemessenste Form, um der Philosophie auch in schriftlicher
Darstellung ihren Charakter zu lassen, nicht Wissen zu sein, sondern
Erzeugen von Wissen in Gemeinschaft bildendem Leben; anderer-
seits liegt in diesem Vorhaben gerade für Platon eine grundsätz-
liche Paradoxie beschlossen. Denn derselbe Mann, dessen einzig-
artige Darstellungskunst den Leser dazu erzieht, in allem Ge-
schehen ein Sinnbild zu sehen, durch welches Zeit, Werden und
Wirklichkeit im Hinblick auf Ewiges, Sein und Wahrheit deutbar
werden, scheint sein eigenes Vorhaben anzugreifen, indem er der
Schrift die Kompetenz verweigert, philosophisches Leben zu
wecken, und der Sprache das Vermögen abspricht, in ‘richtigen
Namen’ das Leben des Gedankens auszudrücken, ja sogar dem
bloßen Gedanken das Recht nimmt, schon als Philosophie zu gelten,
bevor er für das Ganze des Menschen fermgebend geworden ist* 1.
Wie sich Platons Lehrtätigkeit und seine literarische Kunst fak-
tisch zueinander verhielten, wird immer ein Rätsel bleiben2, da
wir jene nicht kennen, auch aus Aristoteles und Aristoxenos3 kein
Rild von ihr gewinnen4. Wir können nur versuchen, in Platons
einander auszuschließen pflegen, beim echten Philosophen aber einander for-
dern. In ‘Muße und Freiheit’ und in Abstand von der Geschäftigkeit des Tages
soll der reine Gedanke reifen, aus dem alsdann die Tat als adaequate Verwirk-
lichung des Gedankens folgt wie die Wirkung aus einer Ursache.
1 Gegen die Schriftstellerei Phaedo. 275eff. Gegen die sprachlichen
Bezeichnungen Resp. 533 e, Soph. 218 c. Gegen tradierbare Lehre Ep. VII,
341 e.
2 Die philosophische Lösung brachte Schillers Lehre, daß die Erziehung
des ‘physischen’ Menschen zum ‘idealischen’ durch das Medium des ‘Ästheti-
schen’ gehen müsse. Diese Theorie ist, grundsätzlich betrachtet, die Recht-
fertigung des Platonischen Kunstwerks.
3 Harm. elem. II Anfang.
4 Es kommt hinzu, daß die Platontradition vom Tode des Philosophen
an Schulgut war. Die zuerst dogmatischen, dann skeptischen, schließlich
mystischen Tendenzen der Schule wirkten, da sie auf das Motiv, Platon zu
verstehen, zurückgingen, zugleich auf das Platonbild selber zurück. So sind
wir genötigt, zu unterscheiden zwischen dem Platonbilde der Schule, zweitens
den auf Aristoteles beruhenden Berichten über seine Lehrvorträge, drittens
dem eigenen literarischen Werke Platons. Das Gewicht dieses Werkes für das
Verständnis des genuinen Platonismus beginnt, unterschätzt zu werden. Man
vergesse nicht, daß Platons literarisches Werk von einer derartigen Kohärenz