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Ernst Hoffmann:
der ewigen Formen hatte Platon sein Leben gegründet; nur auf
derselben Grundlage konnte das Leben des Platonismus beruhen.
Demgemäß gehen die christlichen Berufungen auf Platon,
streng historisch genommen, meistens mehr oder minder fehl. Christ-
liches Seelenleben, auch wo es sich dem Platonischen verwandt
dünkt1, ist anders motiviert. Alles Christlich-Psychische ist un-
trennbar von dem Glauben an die alleinige Absolutheit des Vater-
gottes, ja diese Ausschließlichkeit und 'Armut’ gibt dem Christen-
tum2 gerade seine Tiefe. Hingegen das Platonisch-Psychische ist
untrennbar vom Noetischen im Sinne seines selbständigen plura-
listischen Reichtums. Nur weil die Ideen ein ganzes 'Gefilde’, ja
eine ganze 'Welt’ geordneten Seins ausmachen3, kannte aus dem ver-
strömenden Gewoge des Psychischen, das Protagoras4 entdeckt
hatte, jene geformte Lebensfülle der philosophischen Seele werden,
wie Platon sie darstellte. Aber es genügt andererseits auch nicht,
jene christlichen Berufungen auf Platon dadurch zu erledigen, daß
man statt Platon einfach die fertige neuplatonische Tradition ein-
setzt. Denn diese gehört seit Plotin bereits der christlichen Epoche
an; und was die Apologeten und Kirchenväter meinen, ist gerade,
daß der philosophische Ursprung gewisser für das Christentum
bedeutender Motive zeitlich der Entstehung des Christentums be-
reits voranlag. Und diese Auffassung ist richtig5, sofern es sich
handelt um die von den hellenistischen Platonkonversionen an-
gebahnte mystische Form der Gottessehnsucht, der Weltüberwin-
1 Die Tendenz, diese Verwandtschaft zu erweisen, zeigt sich besonders
auffallend da, wo äydc-7] nicht gegen spco? kontrastiert, sondern mit ihm konta-
miniert wird: Christlicher Neuplatonismus (schon seit dem Areopagiten), der
zu Dantes Zeiten dahin führte, Pauli Hymnus auf das xekziov der Liebe in
der Stimmung des Symposions zu jubilieren.'
2 Vgl. Paul Hensel, Religionsphilosophie, hrsg. von F. Sauer, Göt-
tingen 1934, S. 51.
3 Die Welt der Ideen, bildlich gesprochen, ist um soviel größer als die
Welt der Erscheinungen, Avie der Sternenhimmel größer ist als der Innenraum
der Höhle. Daher muß die Linie Resp. 409 d so geteilt werden, daß ihr oberer
Abschnitt der größere ist.
4 Protagoras nach dem Bilde des Platonischen Theaetet. Vgl. P. Natorp,
Forschungen zur Gesch. d. Erkenntnisproblems im Altertum, Berlin 1884,
Kap. I.
5 In prägnanter Kürze behandelt W. Nestle, Humanismus und Christen-
tum, D. hum. Gymn. 1933 S. 214ff., eine Auswahl patristischer Zeugnisse.
M. Dibelius, Das soziale Motiv im N.T., Sozialeth. Studien hrsg. von der
Forschungsabteilung des Oekumen. Rates, Genf 1933, Aveist lehrreich auf die
Konsequenzen der griechischen Aufklärung für die christliche Gotteslehre hin.
Ernst Hoffmann:
der ewigen Formen hatte Platon sein Leben gegründet; nur auf
derselben Grundlage konnte das Leben des Platonismus beruhen.
Demgemäß gehen die christlichen Berufungen auf Platon,
streng historisch genommen, meistens mehr oder minder fehl. Christ-
liches Seelenleben, auch wo es sich dem Platonischen verwandt
dünkt1, ist anders motiviert. Alles Christlich-Psychische ist un-
trennbar von dem Glauben an die alleinige Absolutheit des Vater-
gottes, ja diese Ausschließlichkeit und 'Armut’ gibt dem Christen-
tum2 gerade seine Tiefe. Hingegen das Platonisch-Psychische ist
untrennbar vom Noetischen im Sinne seines selbständigen plura-
listischen Reichtums. Nur weil die Ideen ein ganzes 'Gefilde’, ja
eine ganze 'Welt’ geordneten Seins ausmachen3, kannte aus dem ver-
strömenden Gewoge des Psychischen, das Protagoras4 entdeckt
hatte, jene geformte Lebensfülle der philosophischen Seele werden,
wie Platon sie darstellte. Aber es genügt andererseits auch nicht,
jene christlichen Berufungen auf Platon dadurch zu erledigen, daß
man statt Platon einfach die fertige neuplatonische Tradition ein-
setzt. Denn diese gehört seit Plotin bereits der christlichen Epoche
an; und was die Apologeten und Kirchenväter meinen, ist gerade,
daß der philosophische Ursprung gewisser für das Christentum
bedeutender Motive zeitlich der Entstehung des Christentums be-
reits voranlag. Und diese Auffassung ist richtig5, sofern es sich
handelt um die von den hellenistischen Platonkonversionen an-
gebahnte mystische Form der Gottessehnsucht, der Weltüberwin-
1 Die Tendenz, diese Verwandtschaft zu erweisen, zeigt sich besonders
auffallend da, wo äydc-7] nicht gegen spco? kontrastiert, sondern mit ihm konta-
miniert wird: Christlicher Neuplatonismus (schon seit dem Areopagiten), der
zu Dantes Zeiten dahin führte, Pauli Hymnus auf das xekziov der Liebe in
der Stimmung des Symposions zu jubilieren.'
2 Vgl. Paul Hensel, Religionsphilosophie, hrsg. von F. Sauer, Göt-
tingen 1934, S. 51.
3 Die Welt der Ideen, bildlich gesprochen, ist um soviel größer als die
Welt der Erscheinungen, Avie der Sternenhimmel größer ist als der Innenraum
der Höhle. Daher muß die Linie Resp. 409 d so geteilt werden, daß ihr oberer
Abschnitt der größere ist.
4 Protagoras nach dem Bilde des Platonischen Theaetet. Vgl. P. Natorp,
Forschungen zur Gesch. d. Erkenntnisproblems im Altertum, Berlin 1884,
Kap. I.
5 In prägnanter Kürze behandelt W. Nestle, Humanismus und Christen-
tum, D. hum. Gymn. 1933 S. 214ff., eine Auswahl patristischer Zeugnisse.
M. Dibelius, Das soziale Motiv im N.T., Sozialeth. Studien hrsg. von der
Forschungsabteilung des Oekumen. Rates, Genf 1933, Aveist lehrreich auf die
Konsequenzen der griechischen Aufklärung für die christliche Gotteslehre hin.