Platonismus und Mystik im Altertum.
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Einung eingegangen, die bis heute unser metaphysisches Erleben
ausmacht, wenn uns hohe Kunst Hymnologie auf den Unendlichen
in Wort, Ton oder Bild empfinden läßt.
Aus der großen Zahl frommer Hymnen, die zwischen dem vier-
ten und dem sechsten Jahrhundert im Neuplatonismus entstanden,
sind nur wenige erhalten. Wären es mehr, so würde sich unser Ge-
samtbild von jenen Lobgesängen als den treuen Bekundungen des
epochalen Geistes kaum ändern; es würde wohl nur neue Bestäti-
gungen erfahren. Lenken wir die Aufmerksamkeit auf Proklos,
Synesios, Boethius, so begegnen wir in griechischer und lateinischer
Sprache, in philosophischer und religiöser Sphäre, in christlicher und
hellenischer Gesinnung einer in wesentlichen Hinsichten einheitlich
gewordenen Weit des Denkens und Fühlens. Noch einmal wird le-
bendig die ganze Fülle der aus den Spielarten des mystischen Plato-
nismus stammenden Symbole für die Ureinsheit, für die stetigeFolge
der Welt aus ihr und für die ersehnte Bückkehr der Seele in sie hin-
ein. Wenn all diese Symbole nunmehr dichterisch verschlungen und
wie in einer ursprünglichen Konzeption geeint erscheinen, so haben
wir aus der Gespanntheit des Ausdrucks, die bis zum Sagen des Un-
sagbaren gesteigert ist, nichts zu erschließen als tiefste Verinner-
lichung der Empfindung, echtes Pathos erlebter Gottesnähe, das,
von bloßer Stilisierung der Gefühle weit entfernt* 1, vielmehr in der
Späteren die Platonische Transzendenz der Ideen nicht vereinbar; aber Gottes
Weltimmanenz und seine Supertranszendenz ergaben keinen Widerspruch.
1 Diesem Mangel an Verständnis sind im neunzehnten Jahrhundert aus
dem Bereiche der neuplatonischen Literatur insbesondere die Schriften des
Proklos zum Opfer gefallen. Den leichtesten Zugang zum Studium des Proklos
bietet sein Kommentar zu Euklids Elementen I (ed. Friedlein 1873), dem
mathematischen Lehrbuche der Platonischen Schule. Dazu Nie. Hartmann.
Des Proklos philosoph. Anfangsgründe der Mathematik, Gießen 1909. Hier
lernt man am unmittelbarsten den für Proklos auch in der Mystik unbedingt
bestimmenden Faktor kennen: Dialektik der Mathematik. Es ist durchaus
irrig, in dem System des Proklos nur die zur festen Form erstarrte Lehre der
Plotinischen Tradition sehen zu wollen. Zunächst ist zu bedenken, daß die ge-
samte platonisierende Tradition, mit Einschluß der stoischen und neupythago-
reischen, in die Erbmasse hineingeworfen ist, wobei wiederum zu berücksichti-
gen ist, daß einerseits die Stoiker und Neupythagoreer in Menge Aristotelisches
rezipiert hatten, andererseits die Neupythagoreer in vielen Stücken Altpytha-
goreisches bewahrten, drittens das Ganze von Proklos immer unter dem Ge-
sichtspunkte der Platondeutung gegeben wurde. Insofern bieten die Schriften
des Proklos tatsächlich das Gesamtvermächtnis der antiken Philosophie unter
dem Blickwinkel ihres letzten, religionsphilosophischen Interesses. Über den
Anteil des Neupythagoreismus bei Proklos vgl. den, dem Standpunkte nach
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Einung eingegangen, die bis heute unser metaphysisches Erleben
ausmacht, wenn uns hohe Kunst Hymnologie auf den Unendlichen
in Wort, Ton oder Bild empfinden läßt.
Aus der großen Zahl frommer Hymnen, die zwischen dem vier-
ten und dem sechsten Jahrhundert im Neuplatonismus entstanden,
sind nur wenige erhalten. Wären es mehr, so würde sich unser Ge-
samtbild von jenen Lobgesängen als den treuen Bekundungen des
epochalen Geistes kaum ändern; es würde wohl nur neue Bestäti-
gungen erfahren. Lenken wir die Aufmerksamkeit auf Proklos,
Synesios, Boethius, so begegnen wir in griechischer und lateinischer
Sprache, in philosophischer und religiöser Sphäre, in christlicher und
hellenischer Gesinnung einer in wesentlichen Hinsichten einheitlich
gewordenen Weit des Denkens und Fühlens. Noch einmal wird le-
bendig die ganze Fülle der aus den Spielarten des mystischen Plato-
nismus stammenden Symbole für die Ureinsheit, für die stetigeFolge
der Welt aus ihr und für die ersehnte Bückkehr der Seele in sie hin-
ein. Wenn all diese Symbole nunmehr dichterisch verschlungen und
wie in einer ursprünglichen Konzeption geeint erscheinen, so haben
wir aus der Gespanntheit des Ausdrucks, die bis zum Sagen des Un-
sagbaren gesteigert ist, nichts zu erschließen als tiefste Verinner-
lichung der Empfindung, echtes Pathos erlebter Gottesnähe, das,
von bloßer Stilisierung der Gefühle weit entfernt* 1, vielmehr in der
Späteren die Platonische Transzendenz der Ideen nicht vereinbar; aber Gottes
Weltimmanenz und seine Supertranszendenz ergaben keinen Widerspruch.
1 Diesem Mangel an Verständnis sind im neunzehnten Jahrhundert aus
dem Bereiche der neuplatonischen Literatur insbesondere die Schriften des
Proklos zum Opfer gefallen. Den leichtesten Zugang zum Studium des Proklos
bietet sein Kommentar zu Euklids Elementen I (ed. Friedlein 1873), dem
mathematischen Lehrbuche der Platonischen Schule. Dazu Nie. Hartmann.
Des Proklos philosoph. Anfangsgründe der Mathematik, Gießen 1909. Hier
lernt man am unmittelbarsten den für Proklos auch in der Mystik unbedingt
bestimmenden Faktor kennen: Dialektik der Mathematik. Es ist durchaus
irrig, in dem System des Proklos nur die zur festen Form erstarrte Lehre der
Plotinischen Tradition sehen zu wollen. Zunächst ist zu bedenken, daß die ge-
samte platonisierende Tradition, mit Einschluß der stoischen und neupythago-
reischen, in die Erbmasse hineingeworfen ist, wobei wiederum zu berücksichti-
gen ist, daß einerseits die Stoiker und Neupythagoreer in Menge Aristotelisches
rezipiert hatten, andererseits die Neupythagoreer in vielen Stücken Altpytha-
goreisches bewahrten, drittens das Ganze von Proklos immer unter dem Ge-
sichtspunkte der Platondeutung gegeben wurde. Insofern bieten die Schriften
des Proklos tatsächlich das Gesamtvermächtnis der antiken Philosophie unter
dem Blickwinkel ihres letzten, religionsphilosophischen Interesses. Über den
Anteil des Neupythagoreismus bei Proklos vgl. den, dem Standpunkte nach