152
Ernst Hoffmann:
verurteilt wurde. Als er im Kerker zu Pavia den Tag der Hinrich-
tung erwartete, dichtete er seine Consolatio philosophiae. Was er
als Christ empfinden mochte, wissen wir nicht; denn seine Schriften,
soweit sie Christliches behandeln, haben rein dogmatische Fragen
zum Gegenstand. Auch gab es in Italien noch kein christliches Bil-
dungswesen, sondern die Kultur des Adels war fest in der Antike ge-
gründet. So suchte Boethius angesichts seines Schicksals das Vor-
bild nicht bei dem, der als Gottessohn für die Erlösung der Sünder,
sondern bei dem, der als Weiser für die Würde der Philosophie ge-
storben war. Die Gesinnung, durch die er sein Leben hatte bestim-
men lassen, sollte auch für sein Sterben in Geltung bleiben. Die
Trostschrift sollte zeigen, daß das Sterben des Sokrates in der Welt
der Sittlichkeit immer wieder neues Leben erzeuge. Genau in die
Mitte seines Buches hat er einen Hymnus eingelegt, der ein Lobge-
sang auf den Gott der spätantiken, philosophischen Frömmigkeit
ist. Im Mittelalter, wo man Boethius für einen kirchlichen Glau-
bensmärtyrer halten mochte (noch heute trägt eine Plastik in einer
Kirche zu Monza im Volksmunde irrtümlich1 seinen Namen), hat
man diesen Hymnus im christlichen Gottesdienst singen lassen2.
Tatsächlich enthält er keinen Gedanken3, der nicht auf Platon und
die Stoa, auf Neupythagoreer oder Neuplatoniker zurückzuführen
wäre. Aber diese Gedanken waren längst nicht mehr etwa unchrist-
lich; und es war eine Fehldeutung, noch ärger als die des Mittel-
1 Das Diptychon stellt nicht, wie man wohl gemeint hat, Boethius mit
der Philosophie dar, sondern einen Dichter mit seiner Muse. Ygl. R. Delbrück,
Die Consulardiptychen, 1929, IV, Tafel 7. Statt dessen s. die in Tafel I darge-
stellte Szene aus der Handschrift 2599 fol. 106b der Bayerischen Staatsbiblio-
thek (Anfang des 13. Jahrh.); sie gibt den Eingang der Trostschrift wieder und
ist durch die Worte Carcer in Papia, Flebilis heu mestos cogor inire modos,
Consolatus ego vobis solatia presto und durch die Inschriften zu Häupten
beider Gestalten sowie auf dem Kleide der Philosophie (s. Consol. pros. I) ein-
deutig signiert.
2 S. Analecta hymnica medii aevi v. Blume und Dreves, XXXI Pia
dictamina, vierte Folge, Leipz. 1898, wo der Hymnus aus Cod. Admonten. 562
(13. Jahrhundert) abgedruckt ist. Ausgezeichnete Hilfen für das Textverständ-
nis bieten die beiden neuen kommentierten Ausgaben der Consolatio, von
Forcescue (London 1925), S. 81 ff. und Weinberger (Leipzig 1934), S. 63f.
3 Daß die Sprache an einigen Stellen Berührungen mit der christlichen
Ausdrucksweise zeigt, ist selbstverständlich. Sie dürfen nicht mit Entlehnun-
gen verwechselt werden. Solche Berührungen hat auch das philosophische
Griechisch, sogar schon in Plutarchs Moralia. Über den literarischen Charakter
der Consolatio vgl. F. Klingner, De Boethii consolatione philosophiae, Berlin
1921 (Philolog. Untersuchungen XXVII).
Ernst Hoffmann:
verurteilt wurde. Als er im Kerker zu Pavia den Tag der Hinrich-
tung erwartete, dichtete er seine Consolatio philosophiae. Was er
als Christ empfinden mochte, wissen wir nicht; denn seine Schriften,
soweit sie Christliches behandeln, haben rein dogmatische Fragen
zum Gegenstand. Auch gab es in Italien noch kein christliches Bil-
dungswesen, sondern die Kultur des Adels war fest in der Antike ge-
gründet. So suchte Boethius angesichts seines Schicksals das Vor-
bild nicht bei dem, der als Gottessohn für die Erlösung der Sünder,
sondern bei dem, der als Weiser für die Würde der Philosophie ge-
storben war. Die Gesinnung, durch die er sein Leben hatte bestim-
men lassen, sollte auch für sein Sterben in Geltung bleiben. Die
Trostschrift sollte zeigen, daß das Sterben des Sokrates in der Welt
der Sittlichkeit immer wieder neues Leben erzeuge. Genau in die
Mitte seines Buches hat er einen Hymnus eingelegt, der ein Lobge-
sang auf den Gott der spätantiken, philosophischen Frömmigkeit
ist. Im Mittelalter, wo man Boethius für einen kirchlichen Glau-
bensmärtyrer halten mochte (noch heute trägt eine Plastik in einer
Kirche zu Monza im Volksmunde irrtümlich1 seinen Namen), hat
man diesen Hymnus im christlichen Gottesdienst singen lassen2.
Tatsächlich enthält er keinen Gedanken3, der nicht auf Platon und
die Stoa, auf Neupythagoreer oder Neuplatoniker zurückzuführen
wäre. Aber diese Gedanken waren längst nicht mehr etwa unchrist-
lich; und es war eine Fehldeutung, noch ärger als die des Mittel-
1 Das Diptychon stellt nicht, wie man wohl gemeint hat, Boethius mit
der Philosophie dar, sondern einen Dichter mit seiner Muse. Ygl. R. Delbrück,
Die Consulardiptychen, 1929, IV, Tafel 7. Statt dessen s. die in Tafel I darge-
stellte Szene aus der Handschrift 2599 fol. 106b der Bayerischen Staatsbiblio-
thek (Anfang des 13. Jahrh.); sie gibt den Eingang der Trostschrift wieder und
ist durch die Worte Carcer in Papia, Flebilis heu mestos cogor inire modos,
Consolatus ego vobis solatia presto und durch die Inschriften zu Häupten
beider Gestalten sowie auf dem Kleide der Philosophie (s. Consol. pros. I) ein-
deutig signiert.
2 S. Analecta hymnica medii aevi v. Blume und Dreves, XXXI Pia
dictamina, vierte Folge, Leipz. 1898, wo der Hymnus aus Cod. Admonten. 562
(13. Jahrhundert) abgedruckt ist. Ausgezeichnete Hilfen für das Textverständ-
nis bieten die beiden neuen kommentierten Ausgaben der Consolatio, von
Forcescue (London 1925), S. 81 ff. und Weinberger (Leipzig 1934), S. 63f.
3 Daß die Sprache an einigen Stellen Berührungen mit der christlichen
Ausdrucksweise zeigt, ist selbstverständlich. Sie dürfen nicht mit Entlehnun-
gen verwechselt werden. Solche Berührungen hat auch das philosophische
Griechisch, sogar schon in Plutarchs Moralia. Über den literarischen Charakter
der Consolatio vgl. F. Klingner, De Boethii consolatione philosophiae, Berlin
1921 (Philolog. Untersuchungen XXVII).