Platonismus und Mystik im Altertum.
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alters, als man im neunzehnten Jahrhundert dem Boethius sein
Christentum und die Urheberschaft seiner katholischen Schriften
absprechen wollte, weil er sich in der Consolatio als Heide zeige.
Sondern der historische Tatbestand ist der, daß gerade die Trost-
schrift zeigt, in welchem Sinne der gelehrte Interpret Platonischer
und AristotelischerWerke und der scharfsinnige Verfasser christ-
lich-dogmatischer Schriften ein und derselbe Mensch war, und
zwar eine in Wesenskern und Bildungsform gänzlich durch ‘Huma-
nitas’ bestimmte Persönlichkeit. Er muß uns nach seiner Consolatio
als Vertreter eines ebenso vornehmen wie hochgesinnten Römer-
tums erscheinen, in welchem das hellenistische Bildungsgut und
die christliche Religion einander bis zu wechselseitiger Vollendung
durchdrungen hatten. Boethius konnte nicht in Untreue gegen
seine christliche Religion, nicht einmal abseits von seiner christ-
lichen Religion, sondern durchaus als Christ die Verse dichten,
deren Inhalt ganz aus griechischer Philosophie stammte. Es nützte
also sozusagen nichts mehr, wenn die Pflege griechischer Philosophie
polizeilich verboten wurde. Der Humanismus war bereits im Chri-
stentum selber enthalten und in ihm mit eigener Kraft wirksam.
Und wie im Osten der spätantike Platonismus durch die Schriften
des Areopagiten in die christliche Mystik eindrang, wie nach Norden
die mönchischen Apostel die Bücher und Güter lateinisch-griechi-
scher Kultur als Bildungselemente in die neuen Klosterschulen mit-
nahmen, so erstand in der Consolatio des Boethius der gebildeten
Christenheit ein Buch, das — nach der unübersehbaren Menge der
Abschriften zu schließen — in keinem Kloster des Mittelalters ge-
fehlt hat1. Derselbe Boethius, dessen exegetische Methode für das
Mittelalter das Muster aller Scholastik abgab2, überlieferte durch
die in der Consolatio enthaltene, im Mittelalter immer wieder aufs
neue kommentierte Fülle antiker Philosopheme3 einerseits lehr-
1 Vgl. K. Burdach, Die humanistischen Wirkungen der Trostschrift des
Boethius im Mittelalter und in der Renaissance. Deutsche Viertelsjahrsschrift
f. Literaturwissensch. u. Geistesgeschichte XI, 4, S. 530—558. Dazu Manitxus,
Gesch. d. latein. Lit. des Mittelalters I, 1911, S. 22—36.
2 Vgl. M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode 1,1909,
S. 148—177.
3 Die Kommentare fügten den im Texte selbst erhaltenen Lehrstoffen
außerdem hinzu, was irgend noch erreichbar war: so verschmolzen der Text
und die Tradition der Kommentare immer mehr zu einem handbuchmäßigen
Inventar der philosophischen Gelehrsamkeit. Da ferner die Kommentare den
Text in streng christlichem Sinne verstanden, so ruhte die mittelalterliche Tra-
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alters, als man im neunzehnten Jahrhundert dem Boethius sein
Christentum und die Urheberschaft seiner katholischen Schriften
absprechen wollte, weil er sich in der Consolatio als Heide zeige.
Sondern der historische Tatbestand ist der, daß gerade die Trost-
schrift zeigt, in welchem Sinne der gelehrte Interpret Platonischer
und AristotelischerWerke und der scharfsinnige Verfasser christ-
lich-dogmatischer Schriften ein und derselbe Mensch war, und
zwar eine in Wesenskern und Bildungsform gänzlich durch ‘Huma-
nitas’ bestimmte Persönlichkeit. Er muß uns nach seiner Consolatio
als Vertreter eines ebenso vornehmen wie hochgesinnten Römer-
tums erscheinen, in welchem das hellenistische Bildungsgut und
die christliche Religion einander bis zu wechselseitiger Vollendung
durchdrungen hatten. Boethius konnte nicht in Untreue gegen
seine christliche Religion, nicht einmal abseits von seiner christ-
lichen Religion, sondern durchaus als Christ die Verse dichten,
deren Inhalt ganz aus griechischer Philosophie stammte. Es nützte
also sozusagen nichts mehr, wenn die Pflege griechischer Philosophie
polizeilich verboten wurde. Der Humanismus war bereits im Chri-
stentum selber enthalten und in ihm mit eigener Kraft wirksam.
Und wie im Osten der spätantike Platonismus durch die Schriften
des Areopagiten in die christliche Mystik eindrang, wie nach Norden
die mönchischen Apostel die Bücher und Güter lateinisch-griechi-
scher Kultur als Bildungselemente in die neuen Klosterschulen mit-
nahmen, so erstand in der Consolatio des Boethius der gebildeten
Christenheit ein Buch, das — nach der unübersehbaren Menge der
Abschriften zu schließen — in keinem Kloster des Mittelalters ge-
fehlt hat1. Derselbe Boethius, dessen exegetische Methode für das
Mittelalter das Muster aller Scholastik abgab2, überlieferte durch
die in der Consolatio enthaltene, im Mittelalter immer wieder aufs
neue kommentierte Fülle antiker Philosopheme3 einerseits lehr-
1 Vgl. K. Burdach, Die humanistischen Wirkungen der Trostschrift des
Boethius im Mittelalter und in der Renaissance. Deutsche Viertelsjahrsschrift
f. Literaturwissensch. u. Geistesgeschichte XI, 4, S. 530—558. Dazu Manitxus,
Gesch. d. latein. Lit. des Mittelalters I, 1911, S. 22—36.
2 Vgl. M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode 1,1909,
S. 148—177.
3 Die Kommentare fügten den im Texte selbst erhaltenen Lehrstoffen
außerdem hinzu, was irgend noch erreichbar war: so verschmolzen der Text
und die Tradition der Kommentare immer mehr zu einem handbuchmäßigen
Inventar der philosophischen Gelehrsamkeit. Da ferner die Kommentare den
Text in streng christlichem Sinne verstanden, so ruhte die mittelalterliche Tra-