Platonismus und Mystik im Altertum.
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Gesichtspunkte, deren Gegensätzlichkeit auf dem Tmema zwischen
absoluter und relativer Sphäre beruht, zwischen der ewigen Gegen-
wart des gesetzlichen Weltsinnes und der kreatürlichen Zeitfolge des
Geschehens. In der Einsheit des göttlichen ‘Augenblickes’ aber ist
die Verschiedenheit möglicher Gesichtspunkte aufgehoben. In der
Erhebung unseres Geistes zur Sicht auf jene Absolutheit liegt unsere
Kraft und Rettung. Das war die Philosophie des Sapiens, die auf dem
guten Gewissen des hellenischen Erkenntnisbegriffes beruhte, der
keine Zerstückelung von Sein, Wahr-sein und Gut-sein zuließ, und
der dadurch zur Lebensmacht erstarkte, wenn die Sprache der Ge-
walt wähnte, philosophische Gesinnung ängstigen zu können.
So zeigt die Trostschrift des Boethius, wie noch am Ausgang
des Altertums der Platonismus1 nicht nur in der Tradition der Schule,
sondern in der ganzen Weite des Bereiches antiker Menschenfor-
mung seine volle Kraft besaß; sie zeigt, was die Antike der Christen-
heit an Menschentum zu schenken hatte. Und dieser rein philo-
sophische Charakter der Schrift hat auch Form und Inhalt ihrer
Hymnen bestimmt. Es fehlt an allen gnostischen und apokalypti-
schen Zügen orientalischer Einwirkung, wie die christliche Idymno-
dik sie aufweist; es handelt sich auch nicht um eine harmonisierende
Linie der Entwicklung wie bei Synesios. Bei Boethius erinnert
nichts an Psalm oder Liturgie, nur wenig sogar an Formel. Weder
Jubel noch Not sind eigentlich die der Anima christiana, und keine
himmlischen Heerscharen respondieren den Lobgesängen, welche
die Schöpfung ihrem Vater erschallen läßt. Sondern der Philosoph
ist es, der die Kosmodizee zum Preislied auf das göttliche Prinzip
gestaltet, weil er der Harmonie zwischen Menschenvernunft und
Weltgesetz selbst angesichts der Folter sicher ist. Der Boethianische
Lobgesang (III, 9) ist vom sogenannten Ambrosianischen so ver-
schieden wie der Kleantheshymnus vom neunzigsten Psalm. Er ist
das Gloria in excelsis des Sokratikers:
1 Er ist bei Boethius vor allem lebendig in der grundsätzlichen und
kontradiktorischen Zweiheit von Sein und Schein, die noch alle Züge des ur-
sprünglichen Platonismus trägt. Der Gottesbegriff des Boethius hingegen
ist der der sv-Spekulation, die unendliche, schöpferische Idee des Einen,
in der drei Motive sich verbunden haben, die Platonische Philosophie
der Essentia, die Aristotelische Philosophie der Substantia, die hellenisti-
sche Philosophie der Existentia. Diese Verbindung erhielt sich auch, als
die sv-Spekulation ins Christentum überging, und damit waren die An-
sätze zu aller Dialektik der Essentia, aller Scholastik der Substantia,
aller Mystik der Existentia gegeben.
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Gesichtspunkte, deren Gegensätzlichkeit auf dem Tmema zwischen
absoluter und relativer Sphäre beruht, zwischen der ewigen Gegen-
wart des gesetzlichen Weltsinnes und der kreatürlichen Zeitfolge des
Geschehens. In der Einsheit des göttlichen ‘Augenblickes’ aber ist
die Verschiedenheit möglicher Gesichtspunkte aufgehoben. In der
Erhebung unseres Geistes zur Sicht auf jene Absolutheit liegt unsere
Kraft und Rettung. Das war die Philosophie des Sapiens, die auf dem
guten Gewissen des hellenischen Erkenntnisbegriffes beruhte, der
keine Zerstückelung von Sein, Wahr-sein und Gut-sein zuließ, und
der dadurch zur Lebensmacht erstarkte, wenn die Sprache der Ge-
walt wähnte, philosophische Gesinnung ängstigen zu können.
So zeigt die Trostschrift des Boethius, wie noch am Ausgang
des Altertums der Platonismus1 nicht nur in der Tradition der Schule,
sondern in der ganzen Weite des Bereiches antiker Menschenfor-
mung seine volle Kraft besaß; sie zeigt, was die Antike der Christen-
heit an Menschentum zu schenken hatte. Und dieser rein philo-
sophische Charakter der Schrift hat auch Form und Inhalt ihrer
Hymnen bestimmt. Es fehlt an allen gnostischen und apokalypti-
schen Zügen orientalischer Einwirkung, wie die christliche Idymno-
dik sie aufweist; es handelt sich auch nicht um eine harmonisierende
Linie der Entwicklung wie bei Synesios. Bei Boethius erinnert
nichts an Psalm oder Liturgie, nur wenig sogar an Formel. Weder
Jubel noch Not sind eigentlich die der Anima christiana, und keine
himmlischen Heerscharen respondieren den Lobgesängen, welche
die Schöpfung ihrem Vater erschallen läßt. Sondern der Philosoph
ist es, der die Kosmodizee zum Preislied auf das göttliche Prinzip
gestaltet, weil er der Harmonie zwischen Menschenvernunft und
Weltgesetz selbst angesichts der Folter sicher ist. Der Boethianische
Lobgesang (III, 9) ist vom sogenannten Ambrosianischen so ver-
schieden wie der Kleantheshymnus vom neunzigsten Psalm. Er ist
das Gloria in excelsis des Sokratikers:
1 Er ist bei Boethius vor allem lebendig in der grundsätzlichen und
kontradiktorischen Zweiheit von Sein und Schein, die noch alle Züge des ur-
sprünglichen Platonismus trägt. Der Gottesbegriff des Boethius hingegen
ist der der sv-Spekulation, die unendliche, schöpferische Idee des Einen,
in der drei Motive sich verbunden haben, die Platonische Philosophie
der Essentia, die Aristotelische Philosophie der Substantia, die hellenisti-
sche Philosophie der Existentia. Diese Verbindung erhielt sich auch, als
die sv-Spekulation ins Christentum überging, und damit waren die An-
sätze zu aller Dialektik der Essentia, aller Scholastik der Substantia,
aller Mystik der Existentia gegeben.