Ovids poetische Menschenwelt
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in der Tradition vorfand, aufbaute. Seine Schöpfungsgeschichten fragen
so wenig wie die seiner Quellen: ,wann und wie entstand der Mensch?1,
sondern: ,was und wie ist der Mensch?1 So gibt Ovid erzählerisch gleich-
sam acht ,Definitionen1, die, als Varianten, natürlich alle wahr, alle
Teile der Wahrheit sein sollen: die beiden Varianten des ersten Schöp-
fungsberichts, die vier Menschentypen des Weltaltermythos, das Gigan-
tenblutgeschlecht und die Steinmänner und -frauen. Eine derart vielfäl-
tige Anthropologie braucht man in der Tat, um der Vielzahl der morali-
schen Charaktere, Schicksale und Leiden in der Menschenwelt der
Metamorphosen gerecht zu werden, ihrer Schurken und Engel, ihrer
Opfer und Helden. Ohne Gigantenblutanthropologie oder Eiserne
Menschheit kein Lycaon, ohne göttlichen Samen keine Apotheose eines
Hercules oder lulius Caesar.
Die acht ,definitorischen‘ Erzählungen bilden keine historisch-chro-
nologische, prozessual-kausale Ereignisfolge, sondern sind in themati-
schen Spannungsbögen angeordnet, die das Thema Mensch durchspie-
len, variierend, transponierend.
Die erste Themendurchführung ist von der Farbe ihres Kontextes be-
stimmt (met. 1,5ff.: vom Chaos zum Kosmos) bzw. prägt ihrerseits den
Textzusammenhang in seinem Charakter und seinen Motiven mit (met.
1,89ff.: die „aurea aetas11). Denn die Krone der Schöpfung, das heilige
Wesen, der Mensch, schließt die kosmogonische Bewegung vom Chaos
zur geordneten schönen Welt ab, und als Illustration zu diesem reinen
Menschenwesen folgt das Goldene Geschlecht.
Der Metallaltermythos (met. 1,89-150) gibt dann, nachdem die Welt-
entstehung bis zum Menschen geführt worden ist, mit dem Thema
Mensch eine zur kosmogonischen steigenden Linie gegenläufige Ab-
wärtsbewegung, die nicht einmal mit den Verbrechen des Eisernen Ge-
schlechts und der Flucht der Götter in den Himmel ihren Tiefpunkt er-
reicht, sondern erst mit dem himmelstürmenden Frevel der Erdsöhne,
der Giganten.
Nachdem der Darstellung des Eisernen Geschlechts der mit diesem
thematisch verwandte Gigantenaufruhr gegen den Himmel gefolgt ist33,
nimmt Ovid das Thema Menschenerschaffung erneut, aber in anderer
Tonart, auf. Von Mordblut triefte die Erde, als Astraea die Menschen
33 Thematischer Übergang: die letzte der Himmlischen hat die Erde verlassen, und die
Giganten, die Söhne der Erde, greifen nach der Herrschaft des Himmels und den Ster-
nen („ultima caelestum terras [. . .] reliquit“, met. 1,150 - „[. . .] terris [.. .] regnum caele-
ste Gigantas [.. .] natorum [. . .] Terram [. . .]“, met. l,151ff.).
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in der Tradition vorfand, aufbaute. Seine Schöpfungsgeschichten fragen
so wenig wie die seiner Quellen: ,wann und wie entstand der Mensch?1,
sondern: ,was und wie ist der Mensch?1 So gibt Ovid erzählerisch gleich-
sam acht ,Definitionen1, die, als Varianten, natürlich alle wahr, alle
Teile der Wahrheit sein sollen: die beiden Varianten des ersten Schöp-
fungsberichts, die vier Menschentypen des Weltaltermythos, das Gigan-
tenblutgeschlecht und die Steinmänner und -frauen. Eine derart vielfäl-
tige Anthropologie braucht man in der Tat, um der Vielzahl der morali-
schen Charaktere, Schicksale und Leiden in der Menschenwelt der
Metamorphosen gerecht zu werden, ihrer Schurken und Engel, ihrer
Opfer und Helden. Ohne Gigantenblutanthropologie oder Eiserne
Menschheit kein Lycaon, ohne göttlichen Samen keine Apotheose eines
Hercules oder lulius Caesar.
Die acht ,definitorischen‘ Erzählungen bilden keine historisch-chro-
nologische, prozessual-kausale Ereignisfolge, sondern sind in themati-
schen Spannungsbögen angeordnet, die das Thema Mensch durchspie-
len, variierend, transponierend.
Die erste Themendurchführung ist von der Farbe ihres Kontextes be-
stimmt (met. 1,5ff.: vom Chaos zum Kosmos) bzw. prägt ihrerseits den
Textzusammenhang in seinem Charakter und seinen Motiven mit (met.
1,89ff.: die „aurea aetas11). Denn die Krone der Schöpfung, das heilige
Wesen, der Mensch, schließt die kosmogonische Bewegung vom Chaos
zur geordneten schönen Welt ab, und als Illustration zu diesem reinen
Menschenwesen folgt das Goldene Geschlecht.
Der Metallaltermythos (met. 1,89-150) gibt dann, nachdem die Welt-
entstehung bis zum Menschen geführt worden ist, mit dem Thema
Mensch eine zur kosmogonischen steigenden Linie gegenläufige Ab-
wärtsbewegung, die nicht einmal mit den Verbrechen des Eisernen Ge-
schlechts und der Flucht der Götter in den Himmel ihren Tiefpunkt er-
reicht, sondern erst mit dem himmelstürmenden Frevel der Erdsöhne,
der Giganten.
Nachdem der Darstellung des Eisernen Geschlechts der mit diesem
thematisch verwandte Gigantenaufruhr gegen den Himmel gefolgt ist33,
nimmt Ovid das Thema Menschenerschaffung erneut, aber in anderer
Tonart, auf. Von Mordblut triefte die Erde, als Astraea die Menschen
33 Thematischer Übergang: die letzte der Himmlischen hat die Erde verlassen, und die
Giganten, die Söhne der Erde, greifen nach der Herrschaft des Himmels und den Ster-
nen („ultima caelestum terras [. . .] reliquit“, met. 1,150 - „[. . .] terris [.. .] regnum caele-
ste Gigantas [.. .] natorum [. . .] Terram [. . .]“, met. l,151ff.).