Ovids poetische Menschenwelt
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Ja, nicht einmal die chronologische Reihenfolge wird wirklich immer
eingehalten. Ovid ist unbekümmert um Chronologie, nicht um chrono-
logische Widersprüche. Wie wenig Chronologie sein Anordnungsprin-
zip sein kann, belegt schlagend dieses eine Beispiel: In met. 6 wird
erzählt, wie Latona mit ihren eben geborenen Zwillingen Apollo und
Diana auf dem Arm von lykischen Bauern am Zugang zu einem Teich
gehindert wird. Doch schon met. 1,441 ff. erlegt Apollo den Urdrachen
Python und verfolgt dann als Liebender die Jungfrau Daphne. Für beide
Geschichten kann man die ratio ihrer Stellung im Werk angeben.16 Bei
der griechischen Mythologie in den Metamorphosen kann die Sagen-
chronologie und Genealogie als ein Mittel unter anderen für die
Reihung und Verknüpfung der Geschichten dienen oder als ein den Hin-
tergrund bildendes, gegenüber den thematischen Beziehungen zurück-
tretendes Anordnungsprinzip wirken.17
Das scheinbar universalhistorische Konzept des Proömiums (met.
I, 3f.) ist in Wirklichkeit nur zeitlicher Rahmen und Gerüst und stellt
einen Totalitätsaspekt des Gegenstandes Menschheit dar. Der chrono-
logische Rahmen des Werkes prägt und strukturiert nicht das Ganze.
Die Dichtung ist nicht historisch aufgebaut; es gibt keine historischen
Epochen, keine geschichtlichen Prozesse. Nicht einmal Heroenalter
und Eiserne Zeit, d. h. eiserne Gegenwart, werden im Gedicht als Epo-
chen herausgehoben und gegeneinander abgegrenzt. Der Metallalter-
mythos (met. 1,89-150) wird innerhalb der sog. Urgeschichte (met. 1,5-
437 bzw. 451) erzählt und ist abgeschlossen, bevor die ersten Personen
der Dichtung auftreten. Die traditionelle Gegenwartsdeutung ,Eiserne
Zeit1 als Teil der ,Urgeschichte4: sollte dieses Paradox den Geschichts-
charakter beider Texteinheiten nicht fraglich machen?
Walther Ludwig18 mit seiner Aufteilung der Metamorphosen in die
drei Großteile: I. Urzeit (met. 1,5-451), II. Mythische Zeit (met. 1,452-
II, 193) und III. Historische Zeit (met. 11,194-15,870) muß sich nicht nur
fragen lassen, woher er weiß, daß Apollos Erlegung Pythons und die
Begründung der pythischen Spiele noch Urzeit, die Liebe des Python-
überwinders zu Daphne aber erst mythische Zeit ist, daß mit dem Bau
der Schöpfung wäre also nicht nur das Chaos vor der Schöpfung, sondern spiegelte sich
auch selbst.
16Vgl. u. S.96ff. undS. 109ff.
17 Vgl. Fränkel (1945), Ovid, S. 75: „the principle of historical sequence makes itself dis-
tinctly feit only for a shorter stretch at the beginning of the epic and for a longer one at its
end (in Books 1-2 and 11-15)“.
18 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen.
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Ja, nicht einmal die chronologische Reihenfolge wird wirklich immer
eingehalten. Ovid ist unbekümmert um Chronologie, nicht um chrono-
logische Widersprüche. Wie wenig Chronologie sein Anordnungsprin-
zip sein kann, belegt schlagend dieses eine Beispiel: In met. 6 wird
erzählt, wie Latona mit ihren eben geborenen Zwillingen Apollo und
Diana auf dem Arm von lykischen Bauern am Zugang zu einem Teich
gehindert wird. Doch schon met. 1,441 ff. erlegt Apollo den Urdrachen
Python und verfolgt dann als Liebender die Jungfrau Daphne. Für beide
Geschichten kann man die ratio ihrer Stellung im Werk angeben.16 Bei
der griechischen Mythologie in den Metamorphosen kann die Sagen-
chronologie und Genealogie als ein Mittel unter anderen für die
Reihung und Verknüpfung der Geschichten dienen oder als ein den Hin-
tergrund bildendes, gegenüber den thematischen Beziehungen zurück-
tretendes Anordnungsprinzip wirken.17
Das scheinbar universalhistorische Konzept des Proömiums (met.
I, 3f.) ist in Wirklichkeit nur zeitlicher Rahmen und Gerüst und stellt
einen Totalitätsaspekt des Gegenstandes Menschheit dar. Der chrono-
logische Rahmen des Werkes prägt und strukturiert nicht das Ganze.
Die Dichtung ist nicht historisch aufgebaut; es gibt keine historischen
Epochen, keine geschichtlichen Prozesse. Nicht einmal Heroenalter
und Eiserne Zeit, d. h. eiserne Gegenwart, werden im Gedicht als Epo-
chen herausgehoben und gegeneinander abgegrenzt. Der Metallalter-
mythos (met. 1,89-150) wird innerhalb der sog. Urgeschichte (met. 1,5-
437 bzw. 451) erzählt und ist abgeschlossen, bevor die ersten Personen
der Dichtung auftreten. Die traditionelle Gegenwartsdeutung ,Eiserne
Zeit1 als Teil der ,Urgeschichte4: sollte dieses Paradox den Geschichts-
charakter beider Texteinheiten nicht fraglich machen?
Walther Ludwig18 mit seiner Aufteilung der Metamorphosen in die
drei Großteile: I. Urzeit (met. 1,5-451), II. Mythische Zeit (met. 1,452-
II, 193) und III. Historische Zeit (met. 11,194-15,870) muß sich nicht nur
fragen lassen, woher er weiß, daß Apollos Erlegung Pythons und die
Begründung der pythischen Spiele noch Urzeit, die Liebe des Python-
überwinders zu Daphne aber erst mythische Zeit ist, daß mit dem Bau
der Schöpfung wäre also nicht nur das Chaos vor der Schöpfung, sondern spiegelte sich
auch selbst.
16Vgl. u. S.96ff. undS. 109ff.
17 Vgl. Fränkel (1945), Ovid, S. 75: „the principle of historical sequence makes itself dis-
tinctly feit only for a shorter stretch at the beginning of the epic and for a longer one at its
end (in Books 1-2 and 11-15)“.
18 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen.