Ovids poetische Menschenwelt
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(met. 1,5-451), II. Mythische Zeit (met. 1,452-11,193), III. Historische
Zeit (meL 11,194-15,870).
Die Einschnitte an den beiden Grenzstellen sind aber kaum tief ge-
nug, um eine solche fundamentale Dreiteilung des Werkes zu rechtferti-
gen: „nondum laurus erat, [...]/ tempora cingebat de qualibet arbore
Phoebus.// Primus amor Phoebi Daphne [. . .]“ (met. 1,450-452); „Ultus
abit [. . (met. 11,194): nach der Bestrafung des Midas verläßt Apollo
den Tmolos . . . Wie können solche grundlegenden Strukturzeichen wie
diese beiden Einschnitte jeweils zwischen zwei Apollogeschichten fal-
len: Apollo tötet den Drachen Python - Apollo verfolgt begehrend das
Mädchen Daphne: Apollo bestraft Midas - Apollo baut für Laomedon
die Mauern Trojas? Ludwig hat sich bereits vorwegnehmend gegen der-
artige Einwände verwahrt, indem er „innere Struktur“ gegen „Oberflä-
che“ ausspielt2, d. h. Argumente wie die meinigen von vornherein als am
bloßen Schein der Textoberfläche haftend entwertet und ihnen vorwirft,
daß sie nicht zur verborgenen Struktur vordringen. Daran ist immerhin
wichtig genug, daß die Struktur von Ovid versteckt worden sei und die
Textoberfläche einen anderen Schein erzeuge, auch wenn Ludwig die-
sen als Täuschung des Lesers betrachtet.
Läßt man sich also einmal auf Ludwigs Struktur ein, so stellt sich er-
neut die Frage (vgl. o. S. 43f.), ob für Ovid denn die kategoriale Diffe-
renzierung der Welt- und Menschenzeit bzw. der Universalgeschichte in
Urzeit, Mythos und Geschichte überhaupt möglich war.3 Und wenn die
erste Erwähnung Trojas (met. 11,194ff.) die Eröffnung der historischen
2 Vgl. Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 19.
3 Diese kritische Frage gilt auch, wenn die Einteilung in drei Großteile göttliche Urzeit,
Heroenzeit und historische Zeit schon auf den Anfang des 20. Jhs. zurückgeht (allerdings
anders als bei Ludwig Pentaden, d. h. Zusammenfassung seiner Urzeit und eines ersten
Teils seiner mythischen Zeit zu einer göttlichen Urzeit“) und „unumstritten“ ist: vgl.
Rieks (1980), Aufbau der Metamorphosen, S. 95 mit Anm. 50. Zu diesem Dreierschema
vgl. u. S. 86 und 122f. - Die Rahmung der Metamorphosen durch Erzählungskomplexe,
die einerseits einer Urzeit, andererseits jüngster Vergangenheit und Gegenwart angehö-
ren (vgl. das Programm met. l,3f.), hat Ähnlichkeit mit dem dreiteiligen Aufbau mündli-
cher Geschichtstraditionen: Ursprung - ,floating gap‘ - jüngste Vergangenheit (vgl.
Vansina, 1985, Oral Tradition as History), worauf mich Jürgen von Ungern-Sternberg
aufmerksam gemacht hat (vgl. auch seinen Beitrag zu dem Colloquium Rauricum „Ver-
gangenheit in mündlicher Überlieferung“; siehe Literaturverzeichnis). Ich zweifle, ob
man mehr dazu sagen kann, als eben diesen Eindruck einer gewissen Analogie zu konsta-
tieren. Jedenfalls hat das Hauptcorpus der ovidischen Verwandlungsgeschichten, eben
das Stück zwischen den Partien im ersten und im fünfzehnten Buch, über Elftausend von
Zwölftausend Versen, nichts mit dem floating gap zu tun, jener Epoche, von der fast
nichts berichtet wird.
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(met. 1,5-451), II. Mythische Zeit (met. 1,452-11,193), III. Historische
Zeit (meL 11,194-15,870).
Die Einschnitte an den beiden Grenzstellen sind aber kaum tief ge-
nug, um eine solche fundamentale Dreiteilung des Werkes zu rechtferti-
gen: „nondum laurus erat, [...]/ tempora cingebat de qualibet arbore
Phoebus.// Primus amor Phoebi Daphne [. . .]“ (met. 1,450-452); „Ultus
abit [. . (met. 11,194): nach der Bestrafung des Midas verläßt Apollo
den Tmolos . . . Wie können solche grundlegenden Strukturzeichen wie
diese beiden Einschnitte jeweils zwischen zwei Apollogeschichten fal-
len: Apollo tötet den Drachen Python - Apollo verfolgt begehrend das
Mädchen Daphne: Apollo bestraft Midas - Apollo baut für Laomedon
die Mauern Trojas? Ludwig hat sich bereits vorwegnehmend gegen der-
artige Einwände verwahrt, indem er „innere Struktur“ gegen „Oberflä-
che“ ausspielt2, d. h. Argumente wie die meinigen von vornherein als am
bloßen Schein der Textoberfläche haftend entwertet und ihnen vorwirft,
daß sie nicht zur verborgenen Struktur vordringen. Daran ist immerhin
wichtig genug, daß die Struktur von Ovid versteckt worden sei und die
Textoberfläche einen anderen Schein erzeuge, auch wenn Ludwig die-
sen als Täuschung des Lesers betrachtet.
Läßt man sich also einmal auf Ludwigs Struktur ein, so stellt sich er-
neut die Frage (vgl. o. S. 43f.), ob für Ovid denn die kategoriale Diffe-
renzierung der Welt- und Menschenzeit bzw. der Universalgeschichte in
Urzeit, Mythos und Geschichte überhaupt möglich war.3 Und wenn die
erste Erwähnung Trojas (met. 11,194ff.) die Eröffnung der historischen
2 Vgl. Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 19.
3 Diese kritische Frage gilt auch, wenn die Einteilung in drei Großteile göttliche Urzeit,
Heroenzeit und historische Zeit schon auf den Anfang des 20. Jhs. zurückgeht (allerdings
anders als bei Ludwig Pentaden, d. h. Zusammenfassung seiner Urzeit und eines ersten
Teils seiner mythischen Zeit zu einer göttlichen Urzeit“) und „unumstritten“ ist: vgl.
Rieks (1980), Aufbau der Metamorphosen, S. 95 mit Anm. 50. Zu diesem Dreierschema
vgl. u. S. 86 und 122f. - Die Rahmung der Metamorphosen durch Erzählungskomplexe,
die einerseits einer Urzeit, andererseits jüngster Vergangenheit und Gegenwart angehö-
ren (vgl. das Programm met. l,3f.), hat Ähnlichkeit mit dem dreiteiligen Aufbau mündli-
cher Geschichtstraditionen: Ursprung - ,floating gap‘ - jüngste Vergangenheit (vgl.
Vansina, 1985, Oral Tradition as History), worauf mich Jürgen von Ungern-Sternberg
aufmerksam gemacht hat (vgl. auch seinen Beitrag zu dem Colloquium Rauricum „Ver-
gangenheit in mündlicher Überlieferung“; siehe Literaturverzeichnis). Ich zweifle, ob
man mehr dazu sagen kann, als eben diesen Eindruck einer gewissen Analogie zu konsta-
tieren. Jedenfalls hat das Hauptcorpus der ovidischen Verwandlungsgeschichten, eben
das Stück zwischen den Partien im ersten und im fünfzehnten Buch, über Elftausend von
Zwölftausend Versen, nichts mit dem floating gap zu tun, jener Epoche, von der fast
nichts berichtet wird.