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Ernst A. Schmidt
Zeit deshalb bedeuten soll, weil von Troja an „eine zielgerichtete Ent-
wicklung bis zum Rom des Juliers Augustus führen wird“, warum wird
dann aber diese zielgerichtete Entwicklung, die Ludwig sogar „einen
zusammenhängenden Prozeß“ nennt4 5, nirgends sichtbar? Denn wo gibt
es in met. 11,194-15,870 den Zusammenhang eines historischen Prozes-
ses? Und warum steht an analoger Stelle der Struktur, an der Grenze
zwischen der I. und der II. Abteilung, mit Apollo und Daphne die erste
Götterliebe? Was ist also der Sinn einer Struktur, die aus den Metamor-
phosen eine Aeneis macht, von der die Oberfläche nichts weiß? Warum
hat die strukturbildende ideelle Grundlage des Werks an keiner Stelle
auf die Erzählung durchgeschlagen?
Ludwigs Abteilung I, Urzeit, besteht aus einem einzigen Großteil (1),
Abteilung II, Mythische Zeit, ist in sieben Großteile untergliedert (2-8).
Die Teile 6 und 7 überlappen sich: met. 9,1-97 gehört sowohl zu 6 als
auch zu 7; und die Teile 2 und 3 schließen nicht aneinander: met. 2,836-
875 ist ein Zwischenstück, so daß als Großteil 3 bald met. 2,836-4,606,
bald met. 3,1-4,606 erscheint? Die Großteile 1 und 2 sind „tektonisch
durchgeformte Einheit(en)“6, jeweils mit Strukturzentrum (Götterver-
sammlung - Phaethon). Das Prinzip der Großteile 3 und 4 ist Genealo-
gie, das Prinzip von 5 thematisch.7 8
Was ist das für eine Gesamtstruktur, die ihre Teile nach wechselnden
Kriterien'7 baut und diese Teile bald aneinandergrenzen, bald überlap-
pen, bald auseinanderklaffen läßt? Sind das bloße Schönheitsfehler oder
Symptome der Diskrepanz zwischen Phänomen und Erklärung? Ich
halte sie für Zeichen der Unangemessenheit der Methode: in Ludwigs
Weise läßt sich die Komposition der Metamorphosen nicht beschreiben
und nicht verstehen.
4 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 60.
5 Vgl. Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 9 und 26 einerseits und S. 26 ande-
rerseits.
6 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 26.
7 Vgl. Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 38.
8 Vgl. in der Rezension von Μ. v. Albrecht (Gnomon 37, 1965, S. 771-774) S. 772: „Die
Kriterien zur Abgrenzung der .Großteile' sind verschieden: teils mehr stofflich, teils
chronologisch, teils motivisch-thematisch.“ Vgl. die Kritik von Otis (1970), Conclusion
to Ovid, S. 314. Vgl. auch Holzberg (1988), Einführung in Metamorphosen, S. 716, der
vor allem das genealogische Strukturprinzip als verfehlt betrachtet.
Ernst A. Schmidt
Zeit deshalb bedeuten soll, weil von Troja an „eine zielgerichtete Ent-
wicklung bis zum Rom des Juliers Augustus führen wird“, warum wird
dann aber diese zielgerichtete Entwicklung, die Ludwig sogar „einen
zusammenhängenden Prozeß“ nennt4 5, nirgends sichtbar? Denn wo gibt
es in met. 11,194-15,870 den Zusammenhang eines historischen Prozes-
ses? Und warum steht an analoger Stelle der Struktur, an der Grenze
zwischen der I. und der II. Abteilung, mit Apollo und Daphne die erste
Götterliebe? Was ist also der Sinn einer Struktur, die aus den Metamor-
phosen eine Aeneis macht, von der die Oberfläche nichts weiß? Warum
hat die strukturbildende ideelle Grundlage des Werks an keiner Stelle
auf die Erzählung durchgeschlagen?
Ludwigs Abteilung I, Urzeit, besteht aus einem einzigen Großteil (1),
Abteilung II, Mythische Zeit, ist in sieben Großteile untergliedert (2-8).
Die Teile 6 und 7 überlappen sich: met. 9,1-97 gehört sowohl zu 6 als
auch zu 7; und die Teile 2 und 3 schließen nicht aneinander: met. 2,836-
875 ist ein Zwischenstück, so daß als Großteil 3 bald met. 2,836-4,606,
bald met. 3,1-4,606 erscheint? Die Großteile 1 und 2 sind „tektonisch
durchgeformte Einheit(en)“6, jeweils mit Strukturzentrum (Götterver-
sammlung - Phaethon). Das Prinzip der Großteile 3 und 4 ist Genealo-
gie, das Prinzip von 5 thematisch.7 8
Was ist das für eine Gesamtstruktur, die ihre Teile nach wechselnden
Kriterien'7 baut und diese Teile bald aneinandergrenzen, bald überlap-
pen, bald auseinanderklaffen läßt? Sind das bloße Schönheitsfehler oder
Symptome der Diskrepanz zwischen Phänomen und Erklärung? Ich
halte sie für Zeichen der Unangemessenheit der Methode: in Ludwigs
Weise läßt sich die Komposition der Metamorphosen nicht beschreiben
und nicht verstehen.
4 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 60.
5 Vgl. Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 9 und 26 einerseits und S. 26 ande-
rerseits.
6 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 26.
7 Vgl. Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 38.
8 Vgl. in der Rezension von Μ. v. Albrecht (Gnomon 37, 1965, S. 771-774) S. 772: „Die
Kriterien zur Abgrenzung der .Großteile' sind verschieden: teils mehr stofflich, teils
chronologisch, teils motivisch-thematisch.“ Vgl. die Kritik von Otis (1970), Conclusion
to Ovid, S. 314. Vgl. auch Holzberg (1988), Einführung in Metamorphosen, S. 716, der
vor allem das genealogische Strukturprinzip als verfehlt betrachtet.