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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0121
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Ovids poetische Menschenwelt

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nach Aristoteles, sittliche Affekt der Empörung, des verletzten Rechts-
gefühls, das Strafbedürfnis (νέμεσις).
Im Blick auf die Götter in den Metamorphosen braucht man beide
Begriffe. Die Verwandlung des Lycaon und die Sintflut werden von
Ovid so erzählt, daß der Leser den Eindruck gerechter Strafe erhält,
einer Strafe aus gerechtem Zorn.15 Wenn aber Juno die Io-Kuh mit der
Schreckensgestalt einer Erinys über den Erdkreis hetzt (met. 1,724 ff.
„Protinus exarsit nec tempora distulit irae / [. . .]“) oder Callisto an den
Haaren packt, mit dem Gesicht zu Boden schleudert und ihr die Men-
schengestalt nimmt16, wird man, auch wenn in der letzteren Geschichte
von ,Bestrafung' die Rede ist (aus der Sicht der Juno: met. 2,467. 474),
von ungerechtem Zorn, von Zorn, sprechen müssen.
Es gibt also eindeutige Fälle gerechter Bestrafung von Bosheit und
Frevel (z.B. die lykischen Bauern in met. 6) und eindeutige Fälle un-
schuldiger Schuld und maßlosen ungerechten Zorns der Götter und un-
verdienten Leidens der Menschen (z.B. Actaeon in met. 3). Aber es gibt
auch Mischphänomene, wo uns zwar eine Strafe berechtigt erscheint,
aber ihr Ausmaß erschreckt und Mitgefühl für das Opfer erregt. Und das
ist nicht unsere christliche Reaktion, unser Bedürfnis nach einer morali-
schen Weltordnung oder moderne Sensibilität allein, sondern das wird
uns durch Ovids Erzählung oder Kommentierung nahegelegt oder gera-
dezu vermittelt: hier mag man vor allem an die Niobegeschichte denken.
Sind die Götter nun bei Ovid gut und gerecht oder willkürlich und
fürchterlich, strafen oder zürnen sie ? Es gibt in den Metamorphosen beide
Anschauungen. Eine Schwäche Ovids, indem er es nicht verstanden hat,
eine einheitliche Konzeption der Götter durchzuführen? Er hat es in der
Tat nicht geschafft, aber nicht aus philosophischer oder poetischer Schwä-
che, sondern aus Wahrheitsliebe und unter Erfahrungsdruck. Wer wollte
Ovid einen Vorwurf daraus machen, daß er neben Erfahrungen, die auf
eine moralische Weltordnung deuten, den Menschen auch als ausgeliefer-
tes Wesen erfuhr und seine komplexe Anthropologie, die den Menschen
als Äthersamen, Himmelsgewächs, Gigantenblutsproß, Steingeschlecht,
als Gold und Silber, Erz und Eisen verstand, um eine Theologie ergänzte,
die die Wirkmächte über den Menschen als sorgend und vernünftig, ge-
15 Vgl. met. 1,166: „ingentes animo et dignas love concipit iras“; 181: „ora indignantia
solvit“; 210: „vindicta“; 241: „digna“; 242f.: „dent [. . .] omnes,/ quas meruere pati [. . .]
poenas“.
16 Schon mit dem jähzornigen „stravit humi pronam“ (met. 2,477) nimmt Juno dem Mäd-
chen gleichsam das den Menschen gegenüber den Tieren Auszeichnende, das „os sub-
lime“ und den „vultus erectus“ des ersten Schöpfungsberichts (vgl. met. 1,76-88).
 
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