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JAHRESFEIER
CHRISTOF NIEHRS HÄLT DEN FESTVORTRAG:
„DIALEKTIK DER EMBRYONALEN INDUKTION"
Ich bin der Geist, der stets verneint1.
Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
(Faust Teil I.)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Dialektik der embryonalen Induktion, das klingt pompös, das ruft auch Assoziatio-
nen wach an Hegel, Marx und Engels, an die ideologischen Exzesse der 68er Stu-
dentenbewegung. Das Ganze gepaart mit Embryonenforschung und womöglich
Stammzelldebatten wie im deutschen Feuilleton, derer man längst überdrüssig ist.
Keine gute Mischung scheint es. Zumal ich Ihnen sogar das Umschlagen von Quan-
tität in Qualität nicht ersparen werde.
Doch kann ich Sie beruhigen, denn als Entwicklungsbiologe möchte ich Sie
heute vertraut machen mit einem der fundamentalen Prozesse in der Embryonal-
entwicklung, der Induktion, die vor rund 100 Jahren von dem deutschen Entwick-
lungsbiologen Hans Spemann entdeckt wurde. Die Induktion ist ein Prozess, der
während verschiedener Phasen der embryonalen Entwicklung immer wieder auf-
taucht, und ein Teil aus der Werkzeugkiste der Natur ist. Im zweiten Teil meines Vor-
trags versuche ich einen Bogen zu Hegel zu schlagen, und zeige einige überra-
schende formale Ähnlichkeiten zwischen der Induktion und der Dialektik auf.
Hans Spemann und experimentelle Entwicklungsbiologie
Hans Spemann, der Entdecker der embryonalen Induktion, wuchs als Sohn eines
vermögenden Verlagsbuchhändlers in Stuttgart auf. Er studierte Medizin in Heidel-
berg, München und Würzburg, wo er sich schließlich der Zoologie zuwandte. Seine
Doktorarbeit machte er bei dem bedeutenden Biologen Theodor Boveri über die
Entwicklung des Schweinespulwurms und danach widmete er sich der Entwicklung
des Mittelohres bei den Amphibien, worüber er auch habilitierte.
Um die Arbeiten Spemanns einordnen zu können, muss man sich den Stand
der Zoologie um 1900 vor Augen führen. Die bekannten Tierarten waren beschrie-
ben und systematisch geordnet in Gattungen, Ordnungen und Familien. Ihre Anato-
mie war studiert und verglichen. Die Organgewebe waren mit histologischen
Schneide- und Färbeverfahren mikroskopisch-zytologisch untersucht. Die embryo-
nale Entwicklung zahlreicher Arten war dokumentiert und vergleichende Untersu-
chungen an verschiedenen Spezies gut etabliert. Dank Darwins Theorie der Stam-
mesentwicklung konnte dieses gewaltige Faktengebäude theoretisch eingeordnet
werden. Somit hatte die Zoologie mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln
der Beschreibung einen vorläufigen Abschluss gefunden (Mangold, 1953). Um 1900
folgte auf diese deskriptive Periode der Biologie die kausal-analytische, manifest
JAHRESFEIER
CHRISTOF NIEHRS HÄLT DEN FESTVORTRAG:
„DIALEKTIK DER EMBRYONALEN INDUKTION"
Ich bin der Geist, der stets verneint1.
Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
(Faust Teil I.)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Dialektik der embryonalen Induktion, das klingt pompös, das ruft auch Assoziatio-
nen wach an Hegel, Marx und Engels, an die ideologischen Exzesse der 68er Stu-
dentenbewegung. Das Ganze gepaart mit Embryonenforschung und womöglich
Stammzelldebatten wie im deutschen Feuilleton, derer man längst überdrüssig ist.
Keine gute Mischung scheint es. Zumal ich Ihnen sogar das Umschlagen von Quan-
tität in Qualität nicht ersparen werde.
Doch kann ich Sie beruhigen, denn als Entwicklungsbiologe möchte ich Sie
heute vertraut machen mit einem der fundamentalen Prozesse in der Embryonal-
entwicklung, der Induktion, die vor rund 100 Jahren von dem deutschen Entwick-
lungsbiologen Hans Spemann entdeckt wurde. Die Induktion ist ein Prozess, der
während verschiedener Phasen der embryonalen Entwicklung immer wieder auf-
taucht, und ein Teil aus der Werkzeugkiste der Natur ist. Im zweiten Teil meines Vor-
trags versuche ich einen Bogen zu Hegel zu schlagen, und zeige einige überra-
schende formale Ähnlichkeiten zwischen der Induktion und der Dialektik auf.
Hans Spemann und experimentelle Entwicklungsbiologie
Hans Spemann, der Entdecker der embryonalen Induktion, wuchs als Sohn eines
vermögenden Verlagsbuchhändlers in Stuttgart auf. Er studierte Medizin in Heidel-
berg, München und Würzburg, wo er sich schließlich der Zoologie zuwandte. Seine
Doktorarbeit machte er bei dem bedeutenden Biologen Theodor Boveri über die
Entwicklung des Schweinespulwurms und danach widmete er sich der Entwicklung
des Mittelohres bei den Amphibien, worüber er auch habilitierte.
Um die Arbeiten Spemanns einordnen zu können, muss man sich den Stand
der Zoologie um 1900 vor Augen führen. Die bekannten Tierarten waren beschrie-
ben und systematisch geordnet in Gattungen, Ordnungen und Familien. Ihre Anato-
mie war studiert und verglichen. Die Organgewebe waren mit histologischen
Schneide- und Färbeverfahren mikroskopisch-zytologisch untersucht. Die embryo-
nale Entwicklung zahlreicher Arten war dokumentiert und vergleichende Untersu-
chungen an verschiedenen Spezies gut etabliert. Dank Darwins Theorie der Stam-
mesentwicklung konnte dieses gewaltige Faktengebäude theoretisch eingeordnet
werden. Somit hatte die Zoologie mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln
der Beschreibung einen vorläufigen Abschluss gefunden (Mangold, 1953). Um 1900
folgte auf diese deskriptive Periode der Biologie die kausal-analytische, manifest