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NACHRUFE
gleichende Erzählforschung ein. Ein einjähriges USA-Stipendium erlaubte es
ihm, diese Studien auszubauen. Als ihn dann unter einem neuen Intendanten die
Theatertätigkeit nicht mehr befriedigte, suchte er wieder Kontakt zur Universität,
begegnete dem Münchner Altgermanisten Hugo Kuhn und fand durch ihn zur
mittelalterlichen Literatur. Im Umkreis Kuhns bin ich Walter Haug zuerst begegnet,
und daraus ist eine wunderbare Freundschaft erwachsen. 1966 habilitierte sich Haug
in München mit einer Arbeit über orientalisch-mittelalterliche Literaturbeziehun-
gen, ein Jahr später wurde er auf einen Lehrstuhl in Regensburg berufen. Von 1973
bis zu seiner Emeritierung 1995 war er dann Ordinarius an der Universität Tübin-
gen. Hier hat er als akademischer Lehrer und Forscher dem Fach Glanz verliehen,
und von hier aus hat er in vielfältiger Weise wissenschaftlich gewirkt und interna-
tionale Anerkennung gefunden.
Diesseits und jenseits der Fachgrenzen hat Haug in gemeinsamen Seminaren,
auf zahllosen Kolloquien (u.a. der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“), seit 1992
auch in der Heidelberger Akademie unermüdlich das wissenschaftliche Gespräch
gesucht und durch seine immer funkelnd formulierten Beiträge angeregt. Als ihm
und mir gemeinsam der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ver-
liehen wurde, war es seine Idee, mit den unverhofften Mitteln eine Serie von zehn
Kolloquien zu Fragen des Übergangs vom Mittelalter zur frühen Neuzeit zu veran-
stalten und durch einen teils festen, teils variierenden Teilnehmerkreis Kontinuität
und Lebendigkeit der Gespräche zu sichern. (Die Tagungsbände erschienen 1991—
1995 in der Reihe „Fortuna vitrea“.) Aus Vorträgen und Diskussionsbeiträgen, die
sich oft auch produktiv-kritisch mit neuen Forschungsrichtungen auseinandersetz-
ten, ist der größte Teil seiner Arbeiten entstanden. Seine Aufsätze sind in vier monu-
mentalen Bänden gesammelt, die er selbst aber nicht als unverrückbares monu-
mentum aere perennius verstanden hat, sondern als immer neues, grundsätzlich
überholbares Bemühen um die überlieferten Texte und Probleme.
Das Feld der mittelalterlichen deutschen Literatur hat Haug in seiner ganzen
Breite vom 9. bis ins 16. Jahrhundert bearbeitet und die Texte dabei vielfach in kom-
paratistische Perspektive gerückt. Vom althochdeutschen „MuspiHi“ bis zum geistli-
chen Spiel des Spätmittelalters und zum frühneuhochdeutschen Prosaroman hat er
wichtige Studien vorgelegt; vom persischen Epos „Wis und Ramin“ bis zu Bertolt
Brecht und Peter Weiss reichen die Ausblicke. Wenn ihn ein Thema faszinierte, über-
schritt er auch leichten und sicheren Fußes die Grenzen der Literaturwissenschaft,
arbeitete z. B. über das Fußbodenmosaik von Otranto in Süditalien, die niederländi-
schen erotischen Tragzeichen oder das Kugelspiel bei Nikolaus von Kues und blieb
dabei doch überzeugter Literaturwissenschaftler. Texte, in denen er Menschliches mit
literarischen Mitteln gestaltet und reflektiert finden konnte, bildeten für ihn das Zen-
trum des Fachs und das Medium eigenen Reflektierens. Dabei hat er die vielfältigen
Bedingtheiten auch großer Texte keineswegs übersehen und hat Bemühungen um
Texte, die kaum mehr sind als kulturhistorische Zeugnisse, gelten lassen und von
ihnen zu lernen versucht. Aber in der Auseinandersetzung mit der sogenannten kul-
turwissenschaftlichen Wende des Fachs hat er energisch dafür plädiert, dass die Lite-
raturwissenschaft im Gespräch der Disziplinen selbstbewusst ihre spezifischen
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gleichende Erzählforschung ein. Ein einjähriges USA-Stipendium erlaubte es
ihm, diese Studien auszubauen. Als ihn dann unter einem neuen Intendanten die
Theatertätigkeit nicht mehr befriedigte, suchte er wieder Kontakt zur Universität,
begegnete dem Münchner Altgermanisten Hugo Kuhn und fand durch ihn zur
mittelalterlichen Literatur. Im Umkreis Kuhns bin ich Walter Haug zuerst begegnet,
und daraus ist eine wunderbare Freundschaft erwachsen. 1966 habilitierte sich Haug
in München mit einer Arbeit über orientalisch-mittelalterliche Literaturbeziehun-
gen, ein Jahr später wurde er auf einen Lehrstuhl in Regensburg berufen. Von 1973
bis zu seiner Emeritierung 1995 war er dann Ordinarius an der Universität Tübin-
gen. Hier hat er als akademischer Lehrer und Forscher dem Fach Glanz verliehen,
und von hier aus hat er in vielfältiger Weise wissenschaftlich gewirkt und interna-
tionale Anerkennung gefunden.
Diesseits und jenseits der Fachgrenzen hat Haug in gemeinsamen Seminaren,
auf zahllosen Kolloquien (u.a. der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“), seit 1992
auch in der Heidelberger Akademie unermüdlich das wissenschaftliche Gespräch
gesucht und durch seine immer funkelnd formulierten Beiträge angeregt. Als ihm
und mir gemeinsam der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ver-
liehen wurde, war es seine Idee, mit den unverhofften Mitteln eine Serie von zehn
Kolloquien zu Fragen des Übergangs vom Mittelalter zur frühen Neuzeit zu veran-
stalten und durch einen teils festen, teils variierenden Teilnehmerkreis Kontinuität
und Lebendigkeit der Gespräche zu sichern. (Die Tagungsbände erschienen 1991—
1995 in der Reihe „Fortuna vitrea“.) Aus Vorträgen und Diskussionsbeiträgen, die
sich oft auch produktiv-kritisch mit neuen Forschungsrichtungen auseinandersetz-
ten, ist der größte Teil seiner Arbeiten entstanden. Seine Aufsätze sind in vier monu-
mentalen Bänden gesammelt, die er selbst aber nicht als unverrückbares monu-
mentum aere perennius verstanden hat, sondern als immer neues, grundsätzlich
überholbares Bemühen um die überlieferten Texte und Probleme.
Das Feld der mittelalterlichen deutschen Literatur hat Haug in seiner ganzen
Breite vom 9. bis ins 16. Jahrhundert bearbeitet und die Texte dabei vielfach in kom-
paratistische Perspektive gerückt. Vom althochdeutschen „MuspiHi“ bis zum geistli-
chen Spiel des Spätmittelalters und zum frühneuhochdeutschen Prosaroman hat er
wichtige Studien vorgelegt; vom persischen Epos „Wis und Ramin“ bis zu Bertolt
Brecht und Peter Weiss reichen die Ausblicke. Wenn ihn ein Thema faszinierte, über-
schritt er auch leichten und sicheren Fußes die Grenzen der Literaturwissenschaft,
arbeitete z. B. über das Fußbodenmosaik von Otranto in Süditalien, die niederländi-
schen erotischen Tragzeichen oder das Kugelspiel bei Nikolaus von Kues und blieb
dabei doch überzeugter Literaturwissenschaftler. Texte, in denen er Menschliches mit
literarischen Mitteln gestaltet und reflektiert finden konnte, bildeten für ihn das Zen-
trum des Fachs und das Medium eigenen Reflektierens. Dabei hat er die vielfältigen
Bedingtheiten auch großer Texte keineswegs übersehen und hat Bemühungen um
Texte, die kaum mehr sind als kulturhistorische Zeugnisse, gelten lassen und von
ihnen zu lernen versucht. Aber in der Auseinandersetzung mit der sogenannten kul-
turwissenschaftlichen Wende des Fachs hat er energisch dafür plädiert, dass die Lite-
raturwissenschaft im Gespräch der Disziplinen selbstbewusst ihre spezifischen