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Komischen, das der Sinnlosigkeit ihren Stachel nehme, aber auch ins Makabre
umschlagen könne, erweitert, ohne ihn preiszugeben. Das lehrhaft-exemplarische
Erzählen, das ihn zunächst vor allem im narrativen Rahmen interessiert hatte („Vom
Pancatantra zum Dekameron“), ließ er zuletzt als stets bereitliegenden Gegenpol zur
Sinnlosigkeit gelten, einen Gegenpol, der immer wieder zu Mischformen führe. In
einer großen Studie zu Marguerite de Navarre wird ihm der „zwielichtige Platonis-
mus“ in Rahmen und einzelnen Erzählungen des „Heptaemeron“ Anlass zur Frage
nach der Möglichkeit eines Erzählens unter dem Anspruch faktischer Wahrheit. Hier
wird besonders deutlich, worum es Haug bei seinen Bemühungen um Kurzerzäh-
lungen letztlich immer ging: die Möglichkeiten von Sinnkonstituierung im Erzählen
oder von Erfahrung von Wahrheit in der Fiktion zu ergründen, eine Problematik, die
ihn vor allem im Bereich des höfischen Romans immer wieder beschäftigt hat.
Der höfische Versroman vom späteren 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert war
zweifellos dasjenige Arbeitsgebiet Walter Haugs, das ihn am längsten und intensivsten
beschäftigt hat, und innerhalb dieses Bereichs hat ihn besonders das Strukturmuster
des klassischen arthurischen Romans fasziniert. Anknüpfend an Hugo Kuhns Analy-
se des ,Erec‘-Romans, versuchte er immer wieder, das von Chretien entworfene, von
Hartmann übernommene und von Wolfram verwandelte und aufgelöste Muster des
symbolischen Aventürewegs eines Protagonisten des Artushofes nach seinem Verfah-
ren der Sinnstiftung und seiner inhaltlichen Bedeutung genauer zu erfassen und
seine Ausstrahlung auf andere Romane zu verfolgen. Er sah in diesem Muster gera-
dezu die „Entdeckung der Fiktionalität“. Wenn auch den Figuren die volle innere
Kontinuität und dem Werk der volle Anspruch auf Autonomie des Literarischen im
Sinne neuzeitlicher Romanästhetik fehle, sei doch im kunstvollen Arrangement frei
entworfener Episoden ein Bewusstsein davon am Werk, dass einem Hörer/Leser im
Nachvollzug eines symbolischen Weges Erfahrungen möglich werden, Einsichten in
nicht mehr vorgegebene Wahrheiten und in die Unlösbarkeit mancher Probleme
menschlicher Existenz. Und dieses Bewusstsein sei auch in den literaturtheoretischen
Passagen dieser Romane, den Prologen und Exkursen, artikuliert. Diese These bildet
auch den Kulminationspunkt in Haugs viel beachteter „Literaturtheorie im deut-
schen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts“ (1985, 2.
überarbeitete und erweiterte Auflage 1992, englische Übersetzung 1997 und 2006).
Das Buch, „ein Ausgangspunkt, von dem aus fortan die Meilensteine des For-
schungsfortschritts auf diesem Gebiet neu gezählt werden“ (Fritz Peter Knapp),
greift freilich viel weiter aus. Ansetzend bei dem Konflikt zwischen antiker Rheto-
rik und christlicher Ästhetik, zwischen Hochschätzung der Form und einer Haltung,
die „auf dem grundsätzlichen Unvermögen menschlicher Äußerung gegenüber der
göttlichen Offenbarung beharrt“, bespricht es die wichtigsten poetologisch reflek-
tierenden Passagen der deutschsprachigen Literatur von Otfrids althochdeutschem
Evangelienbuch bis zu den Romanen des späten 13. Jahrhunderts, immer im Bezug
auf den jeweiligen Werkzusammenhang, in dem topische Argumente ihre individu-
elle Aussagekraft erhalten — eine Kette von Einzelinterpretationen, die viele Texte
ganz neu sehen lehren, und zugleich eine zusammenhängende Geschichte der Lite-
raturreflexion in der Volkssprache.
Komischen, das der Sinnlosigkeit ihren Stachel nehme, aber auch ins Makabre
umschlagen könne, erweitert, ohne ihn preiszugeben. Das lehrhaft-exemplarische
Erzählen, das ihn zunächst vor allem im narrativen Rahmen interessiert hatte („Vom
Pancatantra zum Dekameron“), ließ er zuletzt als stets bereitliegenden Gegenpol zur
Sinnlosigkeit gelten, einen Gegenpol, der immer wieder zu Mischformen führe. In
einer großen Studie zu Marguerite de Navarre wird ihm der „zwielichtige Platonis-
mus“ in Rahmen und einzelnen Erzählungen des „Heptaemeron“ Anlass zur Frage
nach der Möglichkeit eines Erzählens unter dem Anspruch faktischer Wahrheit. Hier
wird besonders deutlich, worum es Haug bei seinen Bemühungen um Kurzerzäh-
lungen letztlich immer ging: die Möglichkeiten von Sinnkonstituierung im Erzählen
oder von Erfahrung von Wahrheit in der Fiktion zu ergründen, eine Problematik, die
ihn vor allem im Bereich des höfischen Romans immer wieder beschäftigt hat.
Der höfische Versroman vom späteren 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert war
zweifellos dasjenige Arbeitsgebiet Walter Haugs, das ihn am längsten und intensivsten
beschäftigt hat, und innerhalb dieses Bereichs hat ihn besonders das Strukturmuster
des klassischen arthurischen Romans fasziniert. Anknüpfend an Hugo Kuhns Analy-
se des ,Erec‘-Romans, versuchte er immer wieder, das von Chretien entworfene, von
Hartmann übernommene und von Wolfram verwandelte und aufgelöste Muster des
symbolischen Aventürewegs eines Protagonisten des Artushofes nach seinem Verfah-
ren der Sinnstiftung und seiner inhaltlichen Bedeutung genauer zu erfassen und
seine Ausstrahlung auf andere Romane zu verfolgen. Er sah in diesem Muster gera-
dezu die „Entdeckung der Fiktionalität“. Wenn auch den Figuren die volle innere
Kontinuität und dem Werk der volle Anspruch auf Autonomie des Literarischen im
Sinne neuzeitlicher Romanästhetik fehle, sei doch im kunstvollen Arrangement frei
entworfener Episoden ein Bewusstsein davon am Werk, dass einem Hörer/Leser im
Nachvollzug eines symbolischen Weges Erfahrungen möglich werden, Einsichten in
nicht mehr vorgegebene Wahrheiten und in die Unlösbarkeit mancher Probleme
menschlicher Existenz. Und dieses Bewusstsein sei auch in den literaturtheoretischen
Passagen dieser Romane, den Prologen und Exkursen, artikuliert. Diese These bildet
auch den Kulminationspunkt in Haugs viel beachteter „Literaturtheorie im deut-
schen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts“ (1985, 2.
überarbeitete und erweiterte Auflage 1992, englische Übersetzung 1997 und 2006).
Das Buch, „ein Ausgangspunkt, von dem aus fortan die Meilensteine des For-
schungsfortschritts auf diesem Gebiet neu gezählt werden“ (Fritz Peter Knapp),
greift freilich viel weiter aus. Ansetzend bei dem Konflikt zwischen antiker Rheto-
rik und christlicher Ästhetik, zwischen Hochschätzung der Form und einer Haltung,
die „auf dem grundsätzlichen Unvermögen menschlicher Äußerung gegenüber der
göttlichen Offenbarung beharrt“, bespricht es die wichtigsten poetologisch reflek-
tierenden Passagen der deutschsprachigen Literatur von Otfrids althochdeutschem
Evangelienbuch bis zu den Romanen des späten 13. Jahrhunderts, immer im Bezug
auf den jeweiligen Werkzusammenhang, in dem topische Argumente ihre individu-
elle Aussagekraft erhalten — eine Kette von Einzelinterpretationen, die viele Texte
ganz neu sehen lehren, und zugleich eine zusammenhängende Geschichte der Lite-
raturreflexion in der Volkssprache.