278 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
der praktischen Funktionalität bleibt unter diesen Prämissen weder der Religion
noch auch nur der Theologie ein eigenständiger theoretischer Wahrheitsanspruch
erhalten. Das pastorale und Frömmigkeitsschrifttum orientiert sich an einem so defi-
nierten Gläubigen in seiner jeweiligen Volksprache, ihre im Mittelalter enge Verbin-
dung zur Theologie wird gelockert. In der Tat lassen sich in zahlreichen theoreti-
schen Texten der Frühen Neuzeit ausdrückliche Belege für eine derartige program-
matische Ausgrenzung der Wissenschaft, für die Akzentuierung individueller Bega-
bungen und Begabungsdifferenzen gegenüber dem allgemein Menschlichen und
übergreifendenVerbindlichkeiten sowie für die (endgültige) Desintegration von Wis-
senschaft, Religion und Politik finden. Den gemeinsamen Rahmen dieser Entwick-
lungstendenzen bildet eben die Naturalisierung des Menschen - dieser wird zunächst
als Naturding, nicht primär unter dem Aspekt seiner Gottesbeziehung aufgefasst —
bei gleichzeitiger Lösung des Menschen aus dem Naturzusammenhang: In dem
Maße, in dem er sich auf individueller Ebene als geistiges, intellektuelles Wesen und
damit als Individuum verwirklicht, vermag er aus der verobjektivierten Natur wieder
herauszutreten. Diese Zusammenhänge sind exemplarisch untersucht und auf ihre
Binnenstruktur, ihre spezifische Neuartigkeit, aber auch auf ihre mittelalterlichen
Wurzeln und Entstehungsbedingungen befragt worden. Vorrangiges Ziel war es
dabei, den Topos der frühneuzeitlichen Individualisierung kritisch zu prüfen, indem
dessen Kehrseite, nämlich eben die Naturalisierung und die damit einhergehende
Abwertung des Menschen, profiliert wird, die Reduzierung des Ranges, der dem
Menschen bereits als solchem zukommt, zugunsten einer stärkeren Gewichtung der
individuellen Differenzen, also zugunsten einer hierarchischen Ausgliederung der
Menschheit. Untersucht wurden — neben Pico della Mirandola, der aufgrund seines
(indirekten) Bezugs zur „Schule von Chartres“ die Brücke zu früheren Arbeits-
schwerpunkten schlägt — zunächst politisch-theoretische und naturphilosophische
Texte von Girolamo Cardano und Pietro Pomponazzi, letzterer auch mit Blick auf
Zusammenhänge zwischen dem ,Venezianischen ,Aristotelismus’ der Frühen Neu-
zeit und dem ‘Averroismus’ des 13. Jahrhunderts.
Auf der Kehrseite dieser wissenschaftsgeschichtlichen fortschreitenden Disso-
ziation von Wissenschaft und Religion, dort also, wo sich immer drängender die
Frage nach der Sinnstiftung, aber auch der Destruktion von Sinn durch wissen-
schaftliches Wissen stellt, ergeben sich vielfältige und hochkomplexe Interaktionen
zwischen Wissenschaft, ,wissenschaftlicher’ Theologie und praktischer Frömmigkeit
(zumal, wenn sie in der Volkssprache stattfindet), die ebenfalls im Rahmen der Pro-
jektgruppe eingehend untersucht worden sind. Im Zentrum des Interesses stand
dabei das in der frühen Neuzeit in Mitteleuropa meistverbreitete Werk der volk-
sprachigen Frömmigkeitsliteratur „Das Grosse Leben Christi“ von Martin von
Cochem (1634-1712), verfasst in der deutschen Sprache - zum Vergleich wurde
auch die zeitgenössische alttschechische Übersetzung einbezogen. Das Werk funk-
tionierte ganz offensichtlich nicht nur als frommes Lehrbuch eines katholischen
Christen, sondern auch als ein Kompendium der naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse der Zeit für die Laien — von Astronomie, über Erdkunde, Geographie, bis zur
Mathematik und Menschenkunde, bzw. Medizin. Wieweit die einzelnen Bildungs-
der praktischen Funktionalität bleibt unter diesen Prämissen weder der Religion
noch auch nur der Theologie ein eigenständiger theoretischer Wahrheitsanspruch
erhalten. Das pastorale und Frömmigkeitsschrifttum orientiert sich an einem so defi-
nierten Gläubigen in seiner jeweiligen Volksprache, ihre im Mittelalter enge Verbin-
dung zur Theologie wird gelockert. In der Tat lassen sich in zahlreichen theoreti-
schen Texten der Frühen Neuzeit ausdrückliche Belege für eine derartige program-
matische Ausgrenzung der Wissenschaft, für die Akzentuierung individueller Bega-
bungen und Begabungsdifferenzen gegenüber dem allgemein Menschlichen und
übergreifendenVerbindlichkeiten sowie für die (endgültige) Desintegration von Wis-
senschaft, Religion und Politik finden. Den gemeinsamen Rahmen dieser Entwick-
lungstendenzen bildet eben die Naturalisierung des Menschen - dieser wird zunächst
als Naturding, nicht primär unter dem Aspekt seiner Gottesbeziehung aufgefasst —
bei gleichzeitiger Lösung des Menschen aus dem Naturzusammenhang: In dem
Maße, in dem er sich auf individueller Ebene als geistiges, intellektuelles Wesen und
damit als Individuum verwirklicht, vermag er aus der verobjektivierten Natur wieder
herauszutreten. Diese Zusammenhänge sind exemplarisch untersucht und auf ihre
Binnenstruktur, ihre spezifische Neuartigkeit, aber auch auf ihre mittelalterlichen
Wurzeln und Entstehungsbedingungen befragt worden. Vorrangiges Ziel war es
dabei, den Topos der frühneuzeitlichen Individualisierung kritisch zu prüfen, indem
dessen Kehrseite, nämlich eben die Naturalisierung und die damit einhergehende
Abwertung des Menschen, profiliert wird, die Reduzierung des Ranges, der dem
Menschen bereits als solchem zukommt, zugunsten einer stärkeren Gewichtung der
individuellen Differenzen, also zugunsten einer hierarchischen Ausgliederung der
Menschheit. Untersucht wurden — neben Pico della Mirandola, der aufgrund seines
(indirekten) Bezugs zur „Schule von Chartres“ die Brücke zu früheren Arbeits-
schwerpunkten schlägt — zunächst politisch-theoretische und naturphilosophische
Texte von Girolamo Cardano und Pietro Pomponazzi, letzterer auch mit Blick auf
Zusammenhänge zwischen dem ,Venezianischen ,Aristotelismus’ der Frühen Neu-
zeit und dem ‘Averroismus’ des 13. Jahrhunderts.
Auf der Kehrseite dieser wissenschaftsgeschichtlichen fortschreitenden Disso-
ziation von Wissenschaft und Religion, dort also, wo sich immer drängender die
Frage nach der Sinnstiftung, aber auch der Destruktion von Sinn durch wissen-
schaftliches Wissen stellt, ergeben sich vielfältige und hochkomplexe Interaktionen
zwischen Wissenschaft, ,wissenschaftlicher’ Theologie und praktischer Frömmigkeit
(zumal, wenn sie in der Volkssprache stattfindet), die ebenfalls im Rahmen der Pro-
jektgruppe eingehend untersucht worden sind. Im Zentrum des Interesses stand
dabei das in der frühen Neuzeit in Mitteleuropa meistverbreitete Werk der volk-
sprachigen Frömmigkeitsliteratur „Das Grosse Leben Christi“ von Martin von
Cochem (1634-1712), verfasst in der deutschen Sprache - zum Vergleich wurde
auch die zeitgenössische alttschechische Übersetzung einbezogen. Das Werk funk-
tionierte ganz offensichtlich nicht nur als frommes Lehrbuch eines katholischen
Christen, sondern auch als ein Kompendium der naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse der Zeit für die Laien — von Astronomie, über Erdkunde, Geographie, bis zur
Mathematik und Menschenkunde, bzw. Medizin. Wieweit die einzelnen Bildungs-