Das WIN-Kolleg
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die allein von Gott kommt. Eine neue Definition der Altersweisheit wird schließlich
in Weish 4 formuliert, denn angesichts des frühen Todes des Gerechten gilt die klas-
sische Altersdefinition nicht mehr. Grauhaarigkeit, ehrenvolles Greiscnalter und
Lebensklugheit sind nicht Kennzeichen eines langen Lebens, sondern können auf
einen jungen, früh verstorbenen Menschen bezogen werden, der zwar ein kurzes,
aber vollkommenes, an der Weisheit ausgerichtetes Leben geführt hat. Dabei wird in
dem Argumentationsgang von Weish 4 auf klassische Topoi der antiken Konsolati-
onsliteratur zurückgegriffen.
2. Alter als Argument.
Zum Gebrauch von Lebensaltertopoi in Texten der römischen Kaiserzeit
Das dem zweiten Teilprojekt zugrunde liegende Textkorpus besteht aus narrativen
und rhetorischen Texten, die in der römischen Kaiserzeit in der Periode der Regie-
rung des Marcus Aurelius bis zum Ende der severischen Dynastie entstanden sind.
Sie stammen von ‘paganen’ und christlichen, lateinisch und griechisch schreibenden
Vertretern der so genannten Zweiten Sophistik, einer in ihrem Kern rhetorischen
Bewegung, die sich an klassischen Vorbildern orientierte. Die ausgewählten narrati-
ven und rhetorischen Texte von Apuleius, Lukian,Tertullian und anderen geben Auf-
schluss über die (Selbst)-Darstellung von religiösen und philosophischen Experten.
Welche Rolle das Alter, auch das hohe Alter als Argument in den in diesem Text-
korpus greifbaren Legitimationsdiskursen spielt, inwiefern Spannungen zwischen der
Altersstufensemantik verschiedener Diskurse — religiöser, philosophischer und der-
jenigen der einzelnen literarischen Gattungen — auftreten und pragmatisiert werden,
ist Gegenstand dieser Untersuchung.
Um das umrissene Textkorpus vor dem Hintergrund einer Lebensaltertopik
untersuchen zu können, stand in diesem Jahr zunächst die Lektüre solcher Schriften
der griechisch-römischen Antike im Vordergrund, die sich ausschließlich oder
zumindest überwiegend mit den Altersstufen auseinandersetzen. Philosophisch-ethi-
sche Konzeptionen eines in Ehren verbrachten hohen Alters werden in den Schrif-
ten über das Alter des Cicero, Plutarch, Musonius, Favorinus, luncus und (Pseudo) -
Lukian entwickelt. Ihnen steht das satirische Sprechen insbesondere über einen
unangemessenen Umgang mit dem physischen Alterungsprozess in den poetischen
Texten eines Horaz, Martial und Juvenal gegenüber. Die medizinische Literatur der
Kaiserzeit entwirft, z.B. in den Schriften Galens, ein auch genderspezifisches Bild
vom körperlichen Reifungsprozess und Abbau und skizziert den angemessenen
therapeutischen Umgang mit letzterem. Die sich diesen Alterstufensemantiken
widmende Forschungsliteratur wurde weiter gesichtet und in eine Datenbank auf-
genommen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Projektarbeit lag im zurückliegenden Jahr auf
der Sammlung und Lektüre von Texten, die zeitlich eng mit dem im Zentrum ste-
henden Corpus von Schriften Zusammenhängen und ebenfalls der Bewegung der
Zweiten Sophistik in einem weiteren Sinne zugeordnet werden können. Die phy-
siognomischen Schriften des zweiten Jahrhunderts und die Traumdeutungen eines
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die allein von Gott kommt. Eine neue Definition der Altersweisheit wird schließlich
in Weish 4 formuliert, denn angesichts des frühen Todes des Gerechten gilt die klas-
sische Altersdefinition nicht mehr. Grauhaarigkeit, ehrenvolles Greiscnalter und
Lebensklugheit sind nicht Kennzeichen eines langen Lebens, sondern können auf
einen jungen, früh verstorbenen Menschen bezogen werden, der zwar ein kurzes,
aber vollkommenes, an der Weisheit ausgerichtetes Leben geführt hat. Dabei wird in
dem Argumentationsgang von Weish 4 auf klassische Topoi der antiken Konsolati-
onsliteratur zurückgegriffen.
2. Alter als Argument.
Zum Gebrauch von Lebensaltertopoi in Texten der römischen Kaiserzeit
Das dem zweiten Teilprojekt zugrunde liegende Textkorpus besteht aus narrativen
und rhetorischen Texten, die in der römischen Kaiserzeit in der Periode der Regie-
rung des Marcus Aurelius bis zum Ende der severischen Dynastie entstanden sind.
Sie stammen von ‘paganen’ und christlichen, lateinisch und griechisch schreibenden
Vertretern der so genannten Zweiten Sophistik, einer in ihrem Kern rhetorischen
Bewegung, die sich an klassischen Vorbildern orientierte. Die ausgewählten narrati-
ven und rhetorischen Texte von Apuleius, Lukian,Tertullian und anderen geben Auf-
schluss über die (Selbst)-Darstellung von religiösen und philosophischen Experten.
Welche Rolle das Alter, auch das hohe Alter als Argument in den in diesem Text-
korpus greifbaren Legitimationsdiskursen spielt, inwiefern Spannungen zwischen der
Altersstufensemantik verschiedener Diskurse — religiöser, philosophischer und der-
jenigen der einzelnen literarischen Gattungen — auftreten und pragmatisiert werden,
ist Gegenstand dieser Untersuchung.
Um das umrissene Textkorpus vor dem Hintergrund einer Lebensaltertopik
untersuchen zu können, stand in diesem Jahr zunächst die Lektüre solcher Schriften
der griechisch-römischen Antike im Vordergrund, die sich ausschließlich oder
zumindest überwiegend mit den Altersstufen auseinandersetzen. Philosophisch-ethi-
sche Konzeptionen eines in Ehren verbrachten hohen Alters werden in den Schrif-
ten über das Alter des Cicero, Plutarch, Musonius, Favorinus, luncus und (Pseudo) -
Lukian entwickelt. Ihnen steht das satirische Sprechen insbesondere über einen
unangemessenen Umgang mit dem physischen Alterungsprozess in den poetischen
Texten eines Horaz, Martial und Juvenal gegenüber. Die medizinische Literatur der
Kaiserzeit entwirft, z.B. in den Schriften Galens, ein auch genderspezifisches Bild
vom körperlichen Reifungsprozess und Abbau und skizziert den angemessenen
therapeutischen Umgang mit letzterem. Die sich diesen Alterstufensemantiken
widmende Forschungsliteratur wurde weiter gesichtet und in eine Datenbank auf-
genommen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Projektarbeit lag im zurückliegenden Jahr auf
der Sammlung und Lektüre von Texten, die zeitlich eng mit dem im Zentrum ste-
henden Corpus von Schriften Zusammenhängen und ebenfalls der Bewegung der
Zweiten Sophistik in einem weiteren Sinne zugeordnet werden können. Die phy-
siognomischen Schriften des zweiten Jahrhunderts und die Traumdeutungen eines