Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

DOI Kapitel:
III. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
DOI Kapitel:
B. Das WIN-Kolleg
DOI Kapitel:
3. Forschungsschwerpunkt "Der menschliche Lebenszyklus - Biologische, gesellschaftliche, kulturelle Aspekte"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0284
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das WIN-Kolleg

297

Der Sangspruch als primär lehrhafte Dichtung behandelt das Thema der
Lebensalter in einem Spektrum von höfisch-ritterlicher Laienethik bis zu christ-
licher Glaubenslehre, von der subjektiven Heischestrophe bis zur objektiven Wis-
sensvermittlung. In der ethischen Auslegung werden die Lebensalter zur Basis für
eine altersspezifische Moraldidaxe (z. B. bei Reinmar von Zweter), zugleich demon-
striert die Gattung in der Bewertung des hohen Alters eine starke Polarität: Zum
einen wird der alte Weise topisch als Lehrinstanz für die gefährdete Jugend aufgebaut
und hilft, didaktische Autorität literarisch zu fundieren, zum anderen wird der (oft
schlicht körperlich) defiziente Alte zum Zielpunkt beißenden Spotts. In dieser pola-
risierenden Gegenüberstellung von Jung und Alt nimmt der Sangspruch nur selten,
wie etwa in Frauenlobs Anrede an den personifizierten Bart, das mittlere Lebensalter
in den Blick.
Die Gattung Minnesang eröffnet mit dem Zusammenspiel von idealer Dame,
werbendem Sänger und Gesellschaft einen fiktiven Raum, in dem der Faktor Zeit
normalerweise nicht der Konkretion unterliegt, da die Minnedame als Verkörperung
idealer Tugend keinen Alterungsprozess kennt. Dennoch ist das Alterwerden ein
Thema, das sich durchaus logisch aus dem Setting des Minnesangs ergibt: Nimmt
man die Beteuerungen des endlosen Dienens ernst, verrinnt im stets neuen Besin-
gen der Dame Zeit. Ab dem 13. Jahrhundert blitzt der Gedanke eines Alterungspro-
zesses vereinzelt auf und festigt sich dann zu einer Topik des alten Sängers und der
alten Minnedame. Betont man dabei nicht im Sinn Ernst Robert Curtius die ein-
fache Motivwiederholung, sondern mit Lothar Bornscheuer die polyvalente Inter-
pretierbarkeit eines Topos, entfaltet beispielsweise der Topos der liebeslustigen Alten
eine rhetorische Signifikanz im Minnediskurs. Als ein im klassischen Minnesang-
system zunächst nicht vorgesehenes Bedeutungsfeld eröffnet das Alter einen Spiel-
raum für neue Aussagen über Minne und Sang, entwickelt sich ein Diskussions-
potential, das weniger biologisch oder soziologisch, sondern vor allem poetologisch
als Ringen um den richtigen Sang durchgespielt wird.
4. Die Erfindung des >gefährlichen Alters< in der Literatur
Das vierte Teilprojekt beschreibt die Konstruktion und Variation des »gefährlichen
Alters< in der Literatur vom 19. bis ins 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf
deutschsprachigen Erzählungen. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Literatur
ab 1800 die mittleren Wechseljahre vermehrt gestaltet und dass sich in den anni cli-
macterii um das 50. Lebensjahr, bei Frauen meist schon um das 30. oder 40. Jahr, eine
als krisenhaft erfahrene Verzeitlichung des menschlichen Lebens spiegelt, wurde die
Arbeitshypothese aufgestellt, dass Alternserzählungen, die meist schon ein kritisches
Alter im Titel tragen, den Beginn der literarischen Gestaltung subjektiver Alternser-
fahrung bilden. In ihnen wird ein zwischen dem 30. und 60. Jahr variables »kritisches
Alter* als Zäsur in der Selbst- und Fremdwahrnehmung verhandelt. Anders als in
früheren Lebensalterdarstellungen setzt mit der subjektivierten Schilderung der kri-
tischen Jahre ein Perspektivenwechsel ein: Alter wird erstmals als innere Erfahrung
beschrieben, die in Beziehung zu drittpersonalen Zuschreibungsmustern treten. Im
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften