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SITZUNGEN
leben, mein letzter Doppelgänger lebte vor x Jahren, mein übernächster Doppelgän-
ger wird in 2 mal x Jahren leben, mein vorletzter Doppelgänger lebte vor 2 mal x
Jahren usw. Diese Wahrheiten sind indexikalische Wahrheiten, sie lassen sich nur mit-
tels Sätzen formulieren, in denen indexikalische Ausdrücke wie „jetzt“, „hier“, „ich“
und das Tempus verbi vorkommen. Solche Sätze gelten aber nur relativ zu Personen,
die irgendwo und irgendwann auftreten und „ich bin jetzt hier“ sagen oder denken
können. Also muß es um der identitas indiscernibilium willen Personen geben, als
Bezugspunkte und Quellen des Sinnes und der Wahrheit indexikalischer Sätze.
4. Einige allgemeine Folgerungen
Die beiden skizzierten Thesen ergänzen einander in aufschlußreicher Weise. Nach
der Antinomiethese ist der Widerspruch kein Betriebsunfall des Denkens, ausgelöst
durch menschliches Versagen, sondern unvermeidlich. Der Satz vom zu vermeiden-
den Widerspruch gilt daher nicht im Indikativ, sondern als Imperativ. Unsere Ver-
nunft erhebt sich aus der Antinomie durch einen heroischen Machtspruch, dessen
Umsetzung über ihre Kräfte geht: „Es soll kein Widerspruch sein!“ Indem wir getreu
dieser Forderung den Widerspruch, so gut und so lange es eben geht, meiden, ver-
halten wir uns per definitionem vernünftig. Nicht vernünftig wäre es hingegen zu
sagen: „Da der Widerspruch am Ende unvermeidlich ist, wollen wir lieber gleich in
Widersprüchen denken.“ Damit glichen wir solchen, die sagten: „Da der Tod am
Ende unvermeidlich ist, wollen wir uns lieber gleich umbringen.“ Im Denken gilt
es den logischen Tod zu meiden, wie wir im Leben den wirklichen Tod meiden —
solange und so gut es geht.
Zu einem eindrucksvollen Schutz gegen die Antinomie haben wir im Laufe
der Zeit die Mathematik ausgebaut. Zwar hat Gödel bewiesen, daß wir die Wider-
spruchsfreiheit der Mathematik, wenn sie widerspruchsfrei ist, nicht beweisen kön-
nen; aber bislang haben wir alle Widersprüche, mit denen wir in der Mathematik,
etwa in der Mengenlehre, konfrontiert wurden, beheben können. Es ist daher kein
Zufall, daß die einzelnen Wissenschaften eine Tendenz zur mathematischen Formu-
lierung ausgebildet haben: Die Mathematik ist ihre Versicherung gegen den Wider-
spruch. Aber Versicherungen sind kostspielig, und der Preis der mathematischen ist
die Abstraktion, d.h. die Ausblendung bestimmter Aspekte des Realen. Außerdem
kann unter Umständen auch eine Versicherung überfordert sein; denn sie bleibt ein-
gebettet in die allgemeinen Risiken des Lebens. So bleibt auch die mathematische
Sprache eingebettet in unsere natürliche Hintergrundsprache, die als selbstbezügliche
Universalsprache unheilbar widerspruchsvoll ist.
Freilich können wir unnötige Risiken im Denken vermeiden, indem wir dar-
auf achten, nicht zu universalistisch, nicht totalitär zu denken. Die Antinomie droht
besonders dann, wenn wir das Reale in der Theorie vollständig erklären oder in der
Praxis vollständig kontrollieren wollen. In diese Richtung weist unabhängig auch die
Subjektivitätsthese, denn ihr zufolge ist das Ideal einer vollständigen Weltbeschrei-
bung nicht nur unerreichbar, sondern sogar als Ideal deplaziert. Die verschiedenen
Erkenntnisstandpunkte lassen sich nicht zu einem neutralen, objektiven Standpunkt
SITZUNGEN
leben, mein letzter Doppelgänger lebte vor x Jahren, mein übernächster Doppelgän-
ger wird in 2 mal x Jahren leben, mein vorletzter Doppelgänger lebte vor 2 mal x
Jahren usw. Diese Wahrheiten sind indexikalische Wahrheiten, sie lassen sich nur mit-
tels Sätzen formulieren, in denen indexikalische Ausdrücke wie „jetzt“, „hier“, „ich“
und das Tempus verbi vorkommen. Solche Sätze gelten aber nur relativ zu Personen,
die irgendwo und irgendwann auftreten und „ich bin jetzt hier“ sagen oder denken
können. Also muß es um der identitas indiscernibilium willen Personen geben, als
Bezugspunkte und Quellen des Sinnes und der Wahrheit indexikalischer Sätze.
4. Einige allgemeine Folgerungen
Die beiden skizzierten Thesen ergänzen einander in aufschlußreicher Weise. Nach
der Antinomiethese ist der Widerspruch kein Betriebsunfall des Denkens, ausgelöst
durch menschliches Versagen, sondern unvermeidlich. Der Satz vom zu vermeiden-
den Widerspruch gilt daher nicht im Indikativ, sondern als Imperativ. Unsere Ver-
nunft erhebt sich aus der Antinomie durch einen heroischen Machtspruch, dessen
Umsetzung über ihre Kräfte geht: „Es soll kein Widerspruch sein!“ Indem wir getreu
dieser Forderung den Widerspruch, so gut und so lange es eben geht, meiden, ver-
halten wir uns per definitionem vernünftig. Nicht vernünftig wäre es hingegen zu
sagen: „Da der Widerspruch am Ende unvermeidlich ist, wollen wir lieber gleich in
Widersprüchen denken.“ Damit glichen wir solchen, die sagten: „Da der Tod am
Ende unvermeidlich ist, wollen wir uns lieber gleich umbringen.“ Im Denken gilt
es den logischen Tod zu meiden, wie wir im Leben den wirklichen Tod meiden —
solange und so gut es geht.
Zu einem eindrucksvollen Schutz gegen die Antinomie haben wir im Laufe
der Zeit die Mathematik ausgebaut. Zwar hat Gödel bewiesen, daß wir die Wider-
spruchsfreiheit der Mathematik, wenn sie widerspruchsfrei ist, nicht beweisen kön-
nen; aber bislang haben wir alle Widersprüche, mit denen wir in der Mathematik,
etwa in der Mengenlehre, konfrontiert wurden, beheben können. Es ist daher kein
Zufall, daß die einzelnen Wissenschaften eine Tendenz zur mathematischen Formu-
lierung ausgebildet haben: Die Mathematik ist ihre Versicherung gegen den Wider-
spruch. Aber Versicherungen sind kostspielig, und der Preis der mathematischen ist
die Abstraktion, d.h. die Ausblendung bestimmter Aspekte des Realen. Außerdem
kann unter Umständen auch eine Versicherung überfordert sein; denn sie bleibt ein-
gebettet in die allgemeinen Risiken des Lebens. So bleibt auch die mathematische
Sprache eingebettet in unsere natürliche Hintergrundsprache, die als selbstbezügliche
Universalsprache unheilbar widerspruchsvoll ist.
Freilich können wir unnötige Risiken im Denken vermeiden, indem wir dar-
auf achten, nicht zu universalistisch, nicht totalitär zu denken. Die Antinomie droht
besonders dann, wenn wir das Reale in der Theorie vollständig erklären oder in der
Praxis vollständig kontrollieren wollen. In diese Richtung weist unabhängig auch die
Subjektivitätsthese, denn ihr zufolge ist das Ideal einer vollständigen Weltbeschrei-
bung nicht nur unerreichbar, sondern sogar als Ideal deplaziert. Die verschiedenen
Erkenntnisstandpunkte lassen sich nicht zu einem neutralen, objektiven Standpunkt