188 | NACHRUFE
Zu dieser veränderten religionsgeschichtlichen Sicht kam bei M. Hengel ein
zweiter Faktor, der die neuen Motive und Gedanken bei Paulus und Johannes erklär-
te: die theologische Potenz urchristlicher Persönlichkeiten, denen er mehr Kreativität
zutraute als anonymen Gemeinden. Für Paulus wies er in vielen Studien nach, dass
er durch das Judentum in Palästina geprägt war, dass er keineswegs nur im Wider-
spruch zu den anderen Aposteln stand, sondern mit einem Charisma der Verständi-
gung den Ausgleich mit ihnen gesucht hatte. Seine neue gesetzeskritische Botschaft
beruhte auf seiner persönlichen Christuserfahrung, die sich aber am Anfang noch
nicht als traditionskritische Kraft auswirkte: Die Nabatäer, die Paulus als erster zu
missionieren versuchte, standen dem Judentum durch ihren bilderlosen Gottesdienst
und die Beschneidungspraxis nahe.
Hinter dem Johannesevangelium nahm er eine starke Persönlichkeit an, die er
mit dem in altkirchlichen Quellen in Ephesus lokalisierten Presbyter Johannes iden-
tifizierte. Ihn hätten die Herausgeber des Evangeliums, das der sehr alt gewordene
Verfasser nicht mehr selbst habe vollenden können, mit dem Lieblingsjünger im
Johannesevangelium gleichgesetzt, in dem der Leser wiederum den Zebedaiden
Johannes sehen sollte — eine geniale, aber etwas komplizierte These, die immerhin
bewirkt hat, dass viele Exegeten das Johannesevangelium in seiner Endgestalt wieder
in Ephesus lokalisieren, auch wenn sie das subtile Spiel mit drei Verfassern, die am
Ende eins sind, anders als M. Hengel erklären.
Es entstand so das Bild eines sich kontinuierlich aus jüdischen Anfängen ent-
wickelnden Urchristentums, das trotz aller traditionsgeschichtlichen Vorprägungen
etwas Neues in die Welt gebracht und damit Anstoß erregt hat. Provozierend war vor
allem dieVerehrung eines Gekreuzigten. Eine gelehrte Studie widmete Hengel allein
dem Nachweis, wie anstößig die mors turpissima crucis in der damaligen Welt war. Von
dieser Anstößigkeit der Christusbotschaft wissen alle neutestamentliche Autoren,
auch „Lukas“, dem man gerne eine Entschärfung aller Spannungen zum Römischen
Reich nachsagt. Wenn die lukanische Apostelgeschichte insgesamt das Bild von einer
kontinuierlichen Entwicklung von den Anfängen bis zu den paulinischen Gemein-
den zeichnet, so trifft diese „Geschichtsschreibung“ im Wesentlichen zu. Sie lässt sich
in die antike Historiographie in ihrer großen Bandbreite einordnen. Manche Tradi-
tionen in ihr, die andere schon lange als unhistorisch verworfen hatten, hielt Hengel
für historisch — selbst das Experiment eines urchristlichen Liebeskommunismus, was
dem aus einer Unternehmerfamilie kommenden Exegeten in manchen ihm sonst
ferne stehenden Kreisen Respekt verschaffte.
Als Widerspruch zu den fast zum Konsens gewordenen Thesen der Bultmann-
schule waren diese Thesen neu. In Wirklichkeit aber kehrte M. Hengel oft zu ver-
lassenen älteren Positionen sowohl konservativer wie liberaler Forscher zurück, vor
allem aber erneuerte er eine dezidiert historische Sicht des Urchristentums auf der
Grundlage des Studiums der antiken Quellen, einschließlich seiner epigraphischen
und archäologischen Zeugnisse. Er plädierte leidenschaftlich für ein Verstehen, das
Ereignisse und Texte im Kontext der damaligen Zeit verstehen will und nicht im
Kontext unserer Zeit, wie es das Ziel der existenzialen Interpretation und Entmy-
thologisierung gewesen war. Im Laufe der Zeit gewann er freilich immer mehr
Zu dieser veränderten religionsgeschichtlichen Sicht kam bei M. Hengel ein
zweiter Faktor, der die neuen Motive und Gedanken bei Paulus und Johannes erklär-
te: die theologische Potenz urchristlicher Persönlichkeiten, denen er mehr Kreativität
zutraute als anonymen Gemeinden. Für Paulus wies er in vielen Studien nach, dass
er durch das Judentum in Palästina geprägt war, dass er keineswegs nur im Wider-
spruch zu den anderen Aposteln stand, sondern mit einem Charisma der Verständi-
gung den Ausgleich mit ihnen gesucht hatte. Seine neue gesetzeskritische Botschaft
beruhte auf seiner persönlichen Christuserfahrung, die sich aber am Anfang noch
nicht als traditionskritische Kraft auswirkte: Die Nabatäer, die Paulus als erster zu
missionieren versuchte, standen dem Judentum durch ihren bilderlosen Gottesdienst
und die Beschneidungspraxis nahe.
Hinter dem Johannesevangelium nahm er eine starke Persönlichkeit an, die er
mit dem in altkirchlichen Quellen in Ephesus lokalisierten Presbyter Johannes iden-
tifizierte. Ihn hätten die Herausgeber des Evangeliums, das der sehr alt gewordene
Verfasser nicht mehr selbst habe vollenden können, mit dem Lieblingsjünger im
Johannesevangelium gleichgesetzt, in dem der Leser wiederum den Zebedaiden
Johannes sehen sollte — eine geniale, aber etwas komplizierte These, die immerhin
bewirkt hat, dass viele Exegeten das Johannesevangelium in seiner Endgestalt wieder
in Ephesus lokalisieren, auch wenn sie das subtile Spiel mit drei Verfassern, die am
Ende eins sind, anders als M. Hengel erklären.
Es entstand so das Bild eines sich kontinuierlich aus jüdischen Anfängen ent-
wickelnden Urchristentums, das trotz aller traditionsgeschichtlichen Vorprägungen
etwas Neues in die Welt gebracht und damit Anstoß erregt hat. Provozierend war vor
allem dieVerehrung eines Gekreuzigten. Eine gelehrte Studie widmete Hengel allein
dem Nachweis, wie anstößig die mors turpissima crucis in der damaligen Welt war. Von
dieser Anstößigkeit der Christusbotschaft wissen alle neutestamentliche Autoren,
auch „Lukas“, dem man gerne eine Entschärfung aller Spannungen zum Römischen
Reich nachsagt. Wenn die lukanische Apostelgeschichte insgesamt das Bild von einer
kontinuierlichen Entwicklung von den Anfängen bis zu den paulinischen Gemein-
den zeichnet, so trifft diese „Geschichtsschreibung“ im Wesentlichen zu. Sie lässt sich
in die antike Historiographie in ihrer großen Bandbreite einordnen. Manche Tradi-
tionen in ihr, die andere schon lange als unhistorisch verworfen hatten, hielt Hengel
für historisch — selbst das Experiment eines urchristlichen Liebeskommunismus, was
dem aus einer Unternehmerfamilie kommenden Exegeten in manchen ihm sonst
ferne stehenden Kreisen Respekt verschaffte.
Als Widerspruch zu den fast zum Konsens gewordenen Thesen der Bultmann-
schule waren diese Thesen neu. In Wirklichkeit aber kehrte M. Hengel oft zu ver-
lassenen älteren Positionen sowohl konservativer wie liberaler Forscher zurück, vor
allem aber erneuerte er eine dezidiert historische Sicht des Urchristentums auf der
Grundlage des Studiums der antiken Quellen, einschließlich seiner epigraphischen
und archäologischen Zeugnisse. Er plädierte leidenschaftlich für ein Verstehen, das
Ereignisse und Texte im Kontext der damaligen Zeit verstehen will und nicht im
Kontext unserer Zeit, wie es das Ziel der existenzialen Interpretation und Entmy-
thologisierung gewesen war. Im Laufe der Zeit gewann er freilich immer mehr