64 2. Analyse des Forschungsstands
Die einzelnen Eremiten und eremitischen Gemeinschaften formulierten so ganz
unterschiedliche proposita, die zu einer zunehmenden Diversifizierung der vita re-
ligiosa führten.263 Da viele der neuen Eremiten, wie die Studie Henrietta Leysers
zeigt, ihr propositum gar nicht außerhalb einer Gemeinschaft realisieren konnten,
waren sie auf den Zustrom von Gleichgesinnten maßgeblich angewiesen.264 Das
propositum selbst wurde dabei nicht selten in der Gestalt eines charismatischen
Führers verkörpert. Melville hat sich am Beispiel Stephans von Muret und Ste-
phans von Obazine intensiv mit Charismatikern der Zeit um 1100 befasst und sich
die Frage gestellt, wie ihre Gemeinschaften mit der kritischen Situation des Todes
oder des Weggangs ihres charismatischen Führers umgingen.265 Im Zentrum stan-
den hier freilich die Fragen nach der Institutionalisierung der vita religiosa, die
bereits an anderer Stelle thematisiert wurden.
Einen tiefen Wandel erfuhr die vita religiosa um 1100 aber auch dadurch, dass
die neuen Eremiten ein gottgefälliges Leben nicht mehr allein durch die strikte Be-
folgung von Regeln gewährleistet sehen wollten, sondern vielmehr versuchten, ihre
spirituellen Leitideen freiwillig und aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus in
die Praxis umzusetzen. Melville bemerkt hierzu: »Die persönliche Überzeugung
von einer im Herzen verankerten Norm stand gegen das positivrechtliche System
einer Institution, die sich als Vermittlerin des Heils prinzipiell zwischen Gott und
den Menschen geschaltet verstand und nun konfrontiert war mit der Konstatie-
rung einer persönlichen Unmittelbarkeit zum Geist Gottes.«266 Eine tiefe Verin-
nerlichung der spirituellen Leitideen wurde somit zur Grundvoraussetzung für ein
religiöses Leben.267 In den Quellen des 11. und vor allem des 12. Jahrhunderts lässt
sich dies auf vielfältige Weise fassen, was in der Forschung mitunter die Frage nach
der Bedeutung der Individualität und der Entdeckung des Individuums im 12. Jahr-
263 Zum propositum vgl. M. Schürer, Das »propositum«; zur Diversifizierung des Mönchtums vgl. G. Mel-
ville, »Unitas« e »diversitas«; Ders., Diversa sunt monasteria; J. Leclercq, Diversification et identite; die
Forschung hat sich in zahlreichen Einzelstudien mit Gründern bedeutender Gemeinschaften befasst.
Eine gute Auswahlbibliographie findet sich dazu in C. Andenna, Heiligenviten als stabilisierende Ge-
dächtnisspeicher, S. 530-536.
264 H. Leyser, Hermits and the New Monasticism, S. 19; C. Andenna, Heiligenviten als stabilisierende
Gedächtnisspeicher, S. 529.
265 Zu Charisma und Charismatikern vgl. den Sammelband G. Melville (Hg.), Charisma; besondere Bei-
spiele sind Stephan von Muret und Stephan von Obazine. Vgl. dazu G. Melville, Stephan von Obazine;
Ders., In solitudine ac paupertate; Ders., Von der regula regularum; Ders., Brückenschlag zur zweiten
Generation; Ders., Die Zisterzienser zeigt, dass gerade das Fehlen eines charismatischen Gründers mit
zum Erfolg Citeaux’ beitrug.
266 G. Melville, Die Welt, S. 165.
267 Neben dem Sammelband G. Melville, M. Schürer (Hgg.), Das Eigene und das Ganze und besonders
dem darin enthaltenen Beitrag von S. R. Kramer, C. W. Bynum, Revisiting the Twelfth-Century sei be-
sonders verwiesen auf G. Melville, In privatis locis; Ders., Auf der Schwelle; Ders., La communication;
G. Constable, The Ideal of Inner Solitude.
Die einzelnen Eremiten und eremitischen Gemeinschaften formulierten so ganz
unterschiedliche proposita, die zu einer zunehmenden Diversifizierung der vita re-
ligiosa führten.263 Da viele der neuen Eremiten, wie die Studie Henrietta Leysers
zeigt, ihr propositum gar nicht außerhalb einer Gemeinschaft realisieren konnten,
waren sie auf den Zustrom von Gleichgesinnten maßgeblich angewiesen.264 Das
propositum selbst wurde dabei nicht selten in der Gestalt eines charismatischen
Führers verkörpert. Melville hat sich am Beispiel Stephans von Muret und Ste-
phans von Obazine intensiv mit Charismatikern der Zeit um 1100 befasst und sich
die Frage gestellt, wie ihre Gemeinschaften mit der kritischen Situation des Todes
oder des Weggangs ihres charismatischen Führers umgingen.265 Im Zentrum stan-
den hier freilich die Fragen nach der Institutionalisierung der vita religiosa, die
bereits an anderer Stelle thematisiert wurden.
Einen tiefen Wandel erfuhr die vita religiosa um 1100 aber auch dadurch, dass
die neuen Eremiten ein gottgefälliges Leben nicht mehr allein durch die strikte Be-
folgung von Regeln gewährleistet sehen wollten, sondern vielmehr versuchten, ihre
spirituellen Leitideen freiwillig und aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus in
die Praxis umzusetzen. Melville bemerkt hierzu: »Die persönliche Überzeugung
von einer im Herzen verankerten Norm stand gegen das positivrechtliche System
einer Institution, die sich als Vermittlerin des Heils prinzipiell zwischen Gott und
den Menschen geschaltet verstand und nun konfrontiert war mit der Konstatie-
rung einer persönlichen Unmittelbarkeit zum Geist Gottes.«266 Eine tiefe Verin-
nerlichung der spirituellen Leitideen wurde somit zur Grundvoraussetzung für ein
religiöses Leben.267 In den Quellen des 11. und vor allem des 12. Jahrhunderts lässt
sich dies auf vielfältige Weise fassen, was in der Forschung mitunter die Frage nach
der Bedeutung der Individualität und der Entdeckung des Individuums im 12. Jahr-
263 Zum propositum vgl. M. Schürer, Das »propositum«; zur Diversifizierung des Mönchtums vgl. G. Mel-
ville, »Unitas« e »diversitas«; Ders., Diversa sunt monasteria; J. Leclercq, Diversification et identite; die
Forschung hat sich in zahlreichen Einzelstudien mit Gründern bedeutender Gemeinschaften befasst.
Eine gute Auswahlbibliographie findet sich dazu in C. Andenna, Heiligenviten als stabilisierende Ge-
dächtnisspeicher, S. 530-536.
264 H. Leyser, Hermits and the New Monasticism, S. 19; C. Andenna, Heiligenviten als stabilisierende
Gedächtnisspeicher, S. 529.
265 Zu Charisma und Charismatikern vgl. den Sammelband G. Melville (Hg.), Charisma; besondere Bei-
spiele sind Stephan von Muret und Stephan von Obazine. Vgl. dazu G. Melville, Stephan von Obazine;
Ders., In solitudine ac paupertate; Ders., Von der regula regularum; Ders., Brückenschlag zur zweiten
Generation; Ders., Die Zisterzienser zeigt, dass gerade das Fehlen eines charismatischen Gründers mit
zum Erfolg Citeaux’ beitrug.
266 G. Melville, Die Welt, S. 165.
267 Neben dem Sammelband G. Melville, M. Schürer (Hgg.), Das Eigene und das Ganze und besonders
dem darin enthaltenen Beitrag von S. R. Kramer, C. W. Bynum, Revisiting the Twelfth-Century sei be-
sonders verwiesen auf G. Melville, In privatis locis; Ders., Auf der Schwelle; Ders., La communication;
G. Constable, The Ideal of Inner Solitude.