4. Simons Gesta abbatum als Überrest der correctio | 201
gewöhnt habe zu lügen, die häufige Lüge zur Kühnheit führt, die Kühnheit das
Verbrechen verdoppelt und das Verbrechen den Tod verdient.856
Auch wenn Simon in diesem Beispiel die Schandtaten eines Laien thematisiert,
beschreibt er Verhaltensweisen, die auch für einen Leser aus dem monastischen
Bereich und insbesondere aus Saint-Bertin Gültigkeit besaßen. So könnte Bodora
sinnbildlich für jene Mönche stehen, die sich an ihren ursprünglichen Dienst für
den heiligen Bertinus nicht mehr erinnert fühlten, sich mehr und mehr von ihren
eigentlichen Aufgaben und Pflichten entfernten und sich auch nach einer Ermah-
nung nicht besserten. Erst als die Missstände öffentlich bekannt wurden, reagierten
sie mit der Flucht und falscher Bekehrung. So wie Bodora gab es viele Mönche, die
ihr altes Leben nicht abgelegt hatten und nicht nur in ihren Taten, sondern auch in
ihrer innere Haltung noch stark in der Welt verhaftet waren. Bodoras Schicksal war
somit eine Mahnung für alle Mönche, nicht nur das Gute zu tun, sondern auch sich
die entsprechende innere Haltung anzueignen: Lug und Trug sollten der Aufrich-
tigkeit weichen.
Heriberts Nachfolger Johannes war von Kindesbeinen an in Saint-Bertin Mönch
und wurde schon früh mit einem Großteil der Verwaltung der Klosterwirtschaft be-
traut, bevor er dann in das Amt des Priors aufstieg. Aber nicht nur seine Begabung
als Verwalter stärkte die Brüder in ihrem Entschluss, Johannes zu ihrem Abt zu
wählen, sondern auch die Tatsache, dass er im Innern des Klosters über die »heil-
bringenden Übungen der Seele« wachte.857 Seine Weihe übernahm Bischof Gerhard
von Cambrai für den abwesenden Bischof von Therouanne.858 Als Abt Johannes
daraufhin mit großem militärischem Gefolge in sein Kloster zurückgebracht wurde,
habe ihm die ganze Gemeinschaft einen Empfang bereitet und sei über die Ehre
ihres Vaters sehr erfreut gewesen. Mit Jubel sei er empfangen, auf den Abtsstuhl
gesetzt und schließlich von allen geküsst und als Vater und Abt verehrt worden.
Die Liebe der Brüder für ihren Abt sei so groß gewesen, dass sie ihm jedes Mal,
856 Simon, Gesta, I, c. 19, S. 640: »Verum cum sepe mendacio contra verum stare homo assuesceret, faciendi
assiduitas aluit audacium, audacia vero congeminaverit crimen, crimen quoque meritam intulit mortem.«
857 Simon, Gesta, I, c. 25, S. 641: »Destitutus igitur tarn luctuoso obitu tanti patris dulcedini filiis et fratribus,
quia ovile dominicum ducatu pastoris diu carere non debuerat, facta electione, in domno lohanne, priore
huius loci, Domini gratia omnes pari concordavere sententia. Qui pene a puericia intra aecclesiasticos
parietes collactatus, ad tantam animi probitatem paulatim crescendo conscenderat, ut illi iam adulto ma-
xima ex parte publicarum rerum iniungeretur dispositio. At ubi provectiori evo animique sagacitate cepit
matuescere, prioratum loci post abbatem Heribertum suscepit suo in tempore. Sicque fratrum usibus
necessariis exterius inserviens et salutiferis animarum exercitiis interius invigilans, in tantum gratiosus et
amabilis Omnibus videbatur, ut, ut dixi, post decessum sepe memorati patris Heriberti ad loci regimen
eadem omnium sententia electus expeteretur.«
858 Simon, Gesta, I, c. 25, S. 641: »Et quoniam Morinensi aecclesiae presul, a quo consecrari et baculo pas-
torali insigniri et, ut moris est, debuerat intronizari, nescio quo discidio, tune temporis deerat, domnum
Gerardum huius rei gratia Cameracensem adiit antistitem, cuius providentiae ob gubernandos sanctae
matris aecclesiae filios dispensatio eiusdem diocesis delegata fuerat.«
gewöhnt habe zu lügen, die häufige Lüge zur Kühnheit führt, die Kühnheit das
Verbrechen verdoppelt und das Verbrechen den Tod verdient.856
Auch wenn Simon in diesem Beispiel die Schandtaten eines Laien thematisiert,
beschreibt er Verhaltensweisen, die auch für einen Leser aus dem monastischen
Bereich und insbesondere aus Saint-Bertin Gültigkeit besaßen. So könnte Bodora
sinnbildlich für jene Mönche stehen, die sich an ihren ursprünglichen Dienst für
den heiligen Bertinus nicht mehr erinnert fühlten, sich mehr und mehr von ihren
eigentlichen Aufgaben und Pflichten entfernten und sich auch nach einer Ermah-
nung nicht besserten. Erst als die Missstände öffentlich bekannt wurden, reagierten
sie mit der Flucht und falscher Bekehrung. So wie Bodora gab es viele Mönche, die
ihr altes Leben nicht abgelegt hatten und nicht nur in ihren Taten, sondern auch in
ihrer innere Haltung noch stark in der Welt verhaftet waren. Bodoras Schicksal war
somit eine Mahnung für alle Mönche, nicht nur das Gute zu tun, sondern auch sich
die entsprechende innere Haltung anzueignen: Lug und Trug sollten der Aufrich-
tigkeit weichen.
Heriberts Nachfolger Johannes war von Kindesbeinen an in Saint-Bertin Mönch
und wurde schon früh mit einem Großteil der Verwaltung der Klosterwirtschaft be-
traut, bevor er dann in das Amt des Priors aufstieg. Aber nicht nur seine Begabung
als Verwalter stärkte die Brüder in ihrem Entschluss, Johannes zu ihrem Abt zu
wählen, sondern auch die Tatsache, dass er im Innern des Klosters über die »heil-
bringenden Übungen der Seele« wachte.857 Seine Weihe übernahm Bischof Gerhard
von Cambrai für den abwesenden Bischof von Therouanne.858 Als Abt Johannes
daraufhin mit großem militärischem Gefolge in sein Kloster zurückgebracht wurde,
habe ihm die ganze Gemeinschaft einen Empfang bereitet und sei über die Ehre
ihres Vaters sehr erfreut gewesen. Mit Jubel sei er empfangen, auf den Abtsstuhl
gesetzt und schließlich von allen geküsst und als Vater und Abt verehrt worden.
Die Liebe der Brüder für ihren Abt sei so groß gewesen, dass sie ihm jedes Mal,
856 Simon, Gesta, I, c. 19, S. 640: »Verum cum sepe mendacio contra verum stare homo assuesceret, faciendi
assiduitas aluit audacium, audacia vero congeminaverit crimen, crimen quoque meritam intulit mortem.«
857 Simon, Gesta, I, c. 25, S. 641: »Destitutus igitur tarn luctuoso obitu tanti patris dulcedini filiis et fratribus,
quia ovile dominicum ducatu pastoris diu carere non debuerat, facta electione, in domno lohanne, priore
huius loci, Domini gratia omnes pari concordavere sententia. Qui pene a puericia intra aecclesiasticos
parietes collactatus, ad tantam animi probitatem paulatim crescendo conscenderat, ut illi iam adulto ma-
xima ex parte publicarum rerum iniungeretur dispositio. At ubi provectiori evo animique sagacitate cepit
matuescere, prioratum loci post abbatem Heribertum suscepit suo in tempore. Sicque fratrum usibus
necessariis exterius inserviens et salutiferis animarum exercitiis interius invigilans, in tantum gratiosus et
amabilis Omnibus videbatur, ut, ut dixi, post decessum sepe memorati patris Heriberti ad loci regimen
eadem omnium sententia electus expeteretur.«
858 Simon, Gesta, I, c. 25, S. 641: »Et quoniam Morinensi aecclesiae presul, a quo consecrari et baculo pas-
torali insigniri et, ut moris est, debuerat intronizari, nescio quo discidio, tune temporis deerat, domnum
Gerardum huius rei gratia Cameracensem adiit antistitem, cuius providentiae ob gubernandos sanctae
matris aecclesiae filios dispensatio eiusdem diocesis delegata fuerat.«