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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0335
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1. Die Abtei von Saint-Martin in ihrem sozio-politischen Umfeld | 331

Anselm, der ehemalige Abt von Saint-Vincent in Laon, nach mehr als 500 Jahren
zum ersten Bischof von Tournai ernannt.1312
An der Schelde gelegen, war Tournai eine bedeutende Grenzstadt, deren links
des Flusses gelegener Teil zur Grafschaft Flandern und deren rechts gelegene Teil
zum Hennegau gehörte.1313 Seit dem frühen 10. Jahrhundert war der Bischof Herr
über den flandrischen Teil der Stadt, gab aber einige der Regalien an das Kathedral-
kapitel ab. Die Kanoniker verfügten daher über den fiscus, über das Recht, Abgaben
zu erheben, und nahmen aktiv an der Rechtssprechung der Stadt teil. Damit wurden
sie nach und nach zu den eigentlichen Herren der Stadt, so dass im 11. Jahrhundert
schließlich der Prior und der Kantor des Kathedralkapitels die wichtigsten Ämter
der Stadt bekleideten.1314
Dem Kapitel, aber auch dem Bischof waren die homines beatae Marie, eine
privilegierte innerstädtische Gruppe von Dienstleuten, auf besondere Weise unter-
stellt.1315 Sie gehen ursprünglich auf cives und milites zurück, die aus Noyon stamm-
ten und im 10. Jahrhundert nach Tournai übergesiedelt waren. Diese homines, die
meist Freie oder freigelassene servi waren, weihten sich der Muttergottes, um ihre
persönliche Freiheit zu bewahren, und genossen den Schutz der Kirche, indem sie
eine jährliche Abgabe, das sogenannte cavagium, zahlten und einen Eid gegenüber
dem Bischof und dem Kapitel ablegten. Da sie durch Handel und Grundbesitz
zu Reichtum und Macht gelangt waren, übernahmen diese homines in der Folge
wichtige Funktionen in der Stadt. Aus ihrer Reihe kamen beispielsweise die sieben
Schöffen, die ihren Sitz im Kreuzgang der Kathedrale hatten und unter dem Vorsitz
des bischöflichen Vogtes und des Kastellans tagten.1316 Es waren schließlich auch
die homines beatae Marie, die sich 1130 gegen ihre Herren - den Bischof und das
Kapitel - erhoben und das Ende ihrer Dienstbarkeit, aber auch den Verzicht auf
Abgaben und Zölle forderten und damit jenen Prozess einleiteten, der 1147 (sicher
1153) zur Kommune von Tournai führte.1317
1312 Eine bedeutende Rolle spielten sicherlich die Vermittlungen Hermanns von Tournai (siehe dazu unten
S. 339) sowie Bernhards von Clairvaux. Zu Letzterem vgl. M. A. Dimier, Saint-Bernard et le reta-
blissement de l’eveche de Tournai, S. 48-59; außerdem die ältere Darstellung von M. Sdralek, Zur
Geschichte der Trennung, S. 66-72, 116-117; zu Simon von Vermandois vgl. auch P. Demouy, Genese
d’une cathedrale, S. 434-435.
1313 Der rechte Teil der Stadt wurde nicht als zu dieser gehörend angesehen. Er unterstand der Vogtei der
Kastellane von Leuze, die dieses Amt vor 1057 nominell für die Grafen von Flandern ausübten und
nach 1057 für die Grafen vom Hennegau. Kirchlich unterstand dieser rechte Teil der Stadt dem Bistum
Cambrai. Vgl. dazu P. Rolland, Histoire de Tournai, S. 48-49.
1314 Der Bischof behielt das Recht auf die Abgaben der Goldschmiede. Ab der Mitte des 10. Jahrhunderts
seien die Kanoniker zu regelrechten »co-seigneurs« geworden. Vgl. dazu P. Rolland, Histoire de Tour-
nai, S. 46-47.
1315 P. Rolland, Les »hommes de Sainte-Marie«, S. 233-250.
1316 P. Rolland, Histoire de Tournai, S. 50-51.
1317 P. Rolland, Les origines de la commune de Tournai, S. 164-193.
 
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