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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0392
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388 | III. Die Abtei Saint-Martin in Tournai

Prägung aussah, berichtet Hermann ausführlich. So habe Odo in dieser zweiten
Phase weiterhin einen sehr individuellen und an Cassian orientierten Führungsstil
an den Tag gelegt, der die Orientierung an Cluny weit in den Hintergrund treten
ließ.
Mit der zweiten existenziellen Krise der Gemeinschaft, die letztlich Odo zu den
genannten Zugeständnissen zwang, änderte sich das propositum der Gemeinschaft
grundlegend. Zunächst sollte sich das Leben der Mönche nicht mehr an den Wei-
sungen der Väter orientieren, sondern an den Gewohnheiten von Cluny, wodurch
die anfängliche Findungsphase der Gemeinschaft mit den verschiedenen eremi-
tisch-asketischen Experimenten ein Ende fand. Obgleich Hermann die Zeit nach
der zweiten Krise aus einer vornehmlich wirtschaftlichen Perspektive betrachtet,
erfährt man am Rande auch über das Leben im Kloster. Demnach habe Odo weiter-
hin an der bereits zuvor ausgeübten strikten Klausur und dem strengen Schweigen
festgehalten und jede Zurschaustellung von Prunk abgelehnt. In Hermanns Erzäh-
lung ist letztlich kein Unterschied zwischen dem innerklösterlichen Leben vor und
nach der zweiten Krise festzustellen, da er auf Begriffe und Ideale rekurriert, die
monastischen Allgemeinplätzen gleichen und in Bezug auf die alltäglichen klöster-
lichen Praktiken mit ganz unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden konnten. Für
Hermann war es nicht notwendig, dies in seiner Erzählung zu präzisieren, zumal
Odos Inspirationsquellen vielfältig waren. Neben den Werken Cassians, die sicher-
lich weiterhin einen besonderen Stellenwert hatten, weist Hermann an einer Stelle
sogar auf die antike Philosophie hin. Odo sei nämlich von manchen Bewohnern
Tournais der Vorwurf gemacht worden, kein christlich monastisches Leben zu füh-
ren, sondern ein Leben, das sich an den antiken Philosophen orientierte.1563 Die
klösterliche Lebensweise von Saint-Martin glich zu Zeiten Odos von Tournai somit
in Hermanns Augen eher einem Amalgam verschiedenster spiritueller Einflüsse als
einem Leben, das sich strikt an den Gewohnheiten eines Klosters orientierte.
Das propositum von Saint-Martin erfuhr durch die zweite existenzielle Krise des
Klosters auch im wirtschaftlichen Bereich entscheidende Veränderungen, schlug die
Gemeinschaft nun doch einen Weg ein, den die meisten zeitgenössischen Klöster
beschritten.1564 Odo selbst habe es bis dahin nämlich strikt abgelehnt, Altäre, Kir-
cuius consuetudines servarent. Placet consilium episcopi, eligitur cenobium Aquicinense, quod XV
annis ante nostrum fuit constructum quodque solum tune temporis in provincia nostra religionem et
consuetudines servabat Cluniacensis cenobii.« Zur Problematik dieser Aussage und ihren Folgen für
die Forschung siehe unten S. 446.
1563 Hermann, Liber, c. 3, S. 39: »Quamvis autem nonnulli dicerent eum hanc districtionem non exercere
causa religionis, sed potius antique philosophie consuetudinis [...].«
1564 Eine Ausnahme bilden die Grandmontenser, die ihr propositum der bewussten und freiwilligen Armut
noch über lange Zeit beibehielten; vgl. dazu G. Melville, In solitudine ac paupertate; Ders., Von der
Regula regularum zur Stephansregel.
 
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