Metadaten

Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0398
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
394 | III. Die Abtei Saint-Martin in Tournai

Weltflucht
Die räumliche Abkehr von der Welt stellt in Hermanns Klostergeschichte ein wei-
teres wichtiges Thema dar. In der Passage über die nächtliche »Flucht« der Mön-
che aus Tournai thematisiert Hermann das Ideal der Weltflucht in ihrer radikalsten
Form. Allein das Leben in eremo konnte den Mönchen ein ungestörtes spirituelles
Leben garantieren. Hermann bezieht hierauf gleich zu Beginn Stellung, wenn er
anmerkt, dass die Brüder zwar den Eifer für Gott hatten, aber nicht das notwen-
dige Wissen.1581 Bedenkt man, dass er die Geschichte des Martinsklosters schreibt,
verwundert diese Haltung wenig, gefährdete der übergroße Eifer der Brüder doch
den Fortbestand des Klosters in Tournai. Auch wenn Hermann das Scheitern dieses
Projektes für sein Kloster begrüßt, ist es doch vielsagend, dass er diese erste Krise
der Gemeinschaft nicht schweigend übergeht, sondern ausführlich thematisiert. Für
ihn war es besonders wichtig, zu zeigen, mit welch großem Eifer die ersten Mönche
lebten - und dass auch in Saint-Martin, wie in so vielen anderen Neugründungen
der damaligen Zeit, das Leben in eremo eine ernsthafte Option gewesen zu sein
schien. Der Wunsch, in der Abgeschiedenheit zu leben, lag aber wohl weniger in
der Störung des klösterlichen Lebens durch den Lärm der Kinder und Frauen be-
gründet als vielmehr in den Besuchen der Familienangehörigen.1582 Wie diese Praxis
unterbunden werden konnte, ohne dabei die Stadt zu verlassen, berichtet Hermann.
Odo habe nämlich nach der Rückkehr aus Noyon versucht, die klösterliche Abge-
schiedenheit dadurch zu erreichen, dass er eine äußerst strenge Klausur einführte,
die von den Bürgern von Tournai als Kerkerhaft empfunden wurde.1583 Bereits in
ähnlicher Weise, so Hermann, habe Odo als Scholaster die Verwandten seiner Schü-
ler während der Unterrichtszeit aus dem Kreuzgang der Kathedrale verwiesen.1584
An der strengen Klausur hielt Odo aber auch nach der zweiten Krise des Klosters
auf besondere Weise fest. Nur drei Brüder, die mit der Versorgung des Klosters be-
sicque eiusdem molendini beatum Martinum cum patrono nostro sancto Amando participem facia-
mus.« Zur Verbindung zwischen Schenkung und der Schutzherrschaft der Heiligen vgl. B. Rosenwein,
To Be the Neighbour.
1581 Hermann, Liber, c. 39, S. 78: »[...] zelum die habentes sed forte non secundum magnam scientiam [...].«
1582 Wenn es heißt, »sie sahen die Kleider der Laien«, könnte dies auf zu häufige Besuche der Familien-
mitglieder hindeuten. Dass diese Besuche zu Beginn wohl eine unerwünschte Realität waren, zeigt das
Beispiel Alulfs, der tagtäglich von seinem Vater an den Haaren aus dem Kloster gezogen wurde (siehe
oben Anm. 1411). Wenn Hermann zudem davon berichtet, wie Odo noch als Scholaster allen Famili-
enangehörigen verbot, den Kreuzgang der Kathedrale zu betreten, während er unterrichtete (ebd., c. 3,
S. 38-39), kann dies ebenfalls ein versteckter Hinweis darauf sein, dass die Besuche der Verwandten in
Saint-Martin auch weiterhin Bestand hatten.
1583 Hermann, Liber, c. 70, S. 121: »[...] totum annum claustro reclusis [...]«; ebd.: »[...] ac veluti de longa
carceris custodia ereptis.«
1584 Hermann, Liber, c. 3, S. 38.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften