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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0426
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422 | III. Die Abtei Saint-Martin in Tournai

Mönche und ihr frommes Leben diesen Ort. Auch wenn Hermann dieses Leben,
wie bereits erwähnt, mit dem Namen Clunys in Verbindung bringt, zeugt seine
Darstellung von einer Vielfalt unterschiedlicher Einflüsse und einer großen Offen-
heit des Mönchtums jener Zeit, die verdeutlichen, dass eine Kategorisierung von
Abteien nach ihrer spirituellen Ausrichtung wenig zielführend ist: So gibt Hermann
beiläufig zu erkennen, dass die Mönche der ersten Generation auf eine Vielzahl von
Texten zurückgriffen, die ihnen als Inspirationsquellen für ihr spirituelles Leben
dienten. Zudem beschreibt er die Beziehungen seines Klosters zu anderen Gemein-
schaften und verweist auf den vielfältigen spirituellen Austausch: Das enge Verhält-
nis zu Anchin darf somit nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Martinskloster
auch wichtige Beziehungen zu Saint-Amand, zu Eremiten und zum kanonikalen
Umfeld des Klosters pflegte. Die Vorstellung, die Spiritualität von Saint-Martin
könne durch das Modell der Filiation auf Anchin zurückgeführt werden, muss so-
mit deutlich zugunsten eines weit offeneren Modells revidiert werden. Eben dies
wird auch deutlich, wenn man sich dem propositum des Martinsklosters zuwen-
det. Hermann formuliert streng genommen kein einheitliches propositum, das die
spirituelle Prägung des Klosters genau umreißt. Sein propositum gleicht vielmehr
einer Vielzahl von Versatzstücken, die mehr oder wenig spezifisch sind. Sie lassen
verschiedene spirituelle Ausrichtungen und Modelle erkennen, die von Hermann
auch unterschiedlich bewertet werden. Schließlich bedient sich der Chronist auch
einer Begrifflichkeit, die so allgemein gehalten ist, dass sie keine Spezifizierung in
Bezug auf die spirituelle Ausrichtung der Gemeinschaft zulässt: caritas, silentium,
clausura, religio, um nur einige wenige Termini zu nennen, können mit den unter-
schiedlichsten Inhalten belegt werden und zeugen somit von einem großen Inter-
pretationsspielraum.
Auf diese spirituelle Offenheit der Gemeinschaft reagiert Hermanns Liber de
restauratione auch im Zusammenhang mit der Frage nach der kollektiven Identität
des Martinsklosters. Die Frage nach dem »wer sind wir?« spielte für Hermann eine
zentrale Rolle. Mit den verschiedenen Versatzstücken, aber auch mit seiner sehr
allgemein gehaltenen Begrifflichkeit sprach er die unterschiedlichsten innerklös-
terlichen Gruppen und jeden einzelnen Mönch an. Jeder Bruder und jede Gruppe
konnte sich so mit der Gemeinschaft identifizieren. Gerade im Zusammenhang mit
einer correctio ist der integrierenden Wirkung eines solchen Textes große Bedeu-
tung beizumessen: Eine correctio teilte eine Gemeinschaft, die in sich bereits hete-
rogen war, in weitere Gruppierungen, wie beispielsweise Befürworter und Gegner,
auf. Bei der Durchführung der correctio musste daher besonders darauf geachtet
werden, jeden Mönch und jeder innerklösterliche Gruppe anzusprechen und zu
integrieren.
 
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