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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0487
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6. Die spirituelle Prägung der Gemeinschaft in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts 483

verweisen die Äbte allerdings darauf, dass sie keineswegs »ewiges Schweigen« ver-
ordnet haben, sondern es jedem Mönch nach eigenem Vermögen und Dafürhalten
freistellten, in den vorgeschriebenen Redezeiten zu schweigen.1945 Dieser Gedanke
der Äbte des Generalkapitels findet sich in ganz ähnlicher Weise in De novitiis
instruendis wieder. Bedenkt man, dass darin die doctrina Gosvini enthalten sein
soll und dass Gossuin wohl selbst an den Generalkapiteln von Reims und Soissons
teilgenommen hat, liegt die Vermutung nahe, dass hier eine direkte Verbindung
zwischen den Generalkapiteln und der Spiritualität eines der beteiligten Klöster,
nämlich Anchin, zu sehen ist.
In De novitiis instruendis wird unmissverständlich gemacht, dass das Schweigen
dem Reden grundsätzlich vorzuziehen sei, da der Mönch dadurch doch keine Ge-
fahr laufe, Verfehlungen zu begehen.1946 Das Beispiel der Verleumdung macht dies
mehr als deutlich. Wenn ein Mönch von anderen verleumdet wird, solle er, so der
Ratschlag, keinesfalls darauf reagieren und lieber schweigen.1947 Dadurch vermeidet
er, dass er selbst sündigt, indem durch sein Reden etwa Zwietracht in der Gemein-
schaft gesät wird. Die Situation der ungerechten Beschuldigung ist letztlich nichts
anderes als eine Prüfung Gottes.1948 Der Mönch steht hierbei vor der Entscheidung
des Reagierens oder des Ignorierens, wobei letzteres die richtige Einstellung sei.1949
Das Werk De novitiis instruendis ist somit eine Anleitung zu einem gottgefäl-
ligen Leben. Im Zentrum steht dabei ganz allgemein jedes Individuum, das sich für
ein religiöses Leben entschieden hat. Die Gemeinschaft hingegen spielt in diesem
Werk ein eher zweitrangige Rolle. Sie ist der institutionelle Rahmen für das Erlernen
des Mönchseins und bietet hierzu zahlreiche Möglichkeiten.1950 Die Gemeinschaft
ist zugleich der Ort, an dem der Erfolg oder Misserfolg der Religiösen offen zu Tage
tritt. Konflikte und Zwietracht sind klare Zeichen dafür, dass in einer Gemeinschaft
quasi regularia erant [...]. [...] secundum consuetudines Cluniacenses camerarius et cellerarius collo-
quio interesse debent, ubi fratres eis honestius colloqui possint et maxime iuniores, [...].«
1945 S. Ceglar, Guillaume de Saint-Thierry, S. 343-344: »[...] non perpetuum tarnen, sicut vos, calumniami-
ni, sed sicut posse singulos intelligimus. Nam de spiritualibus et necessariis loqui, quibus et quando et
quomodo nobis videtur, non prohibemus licentiam, immo omni silentio gratius habemus, si tempore
et loco oportuno nobis, vel quibus id licet, super his colloquuntur, et etiam invitos in hoc ipsum saepe
provocamus.«
1946 M. Breitenstein, De novitiis instruendis, S. 86-87.
1947 Vgl. das Verhalten Gossuins in entsprechenden Situationen Vita secunda, III, c. 18, S. 225: »Verba
murmurantium reprimendo, vel potius non obaudiendo annihilabat; verbis bonorum congaudendo
favebat.«
1948 M. Breitenstein, De novitiis instruendis, S. 114: »Deinde, ut cogitemus quia quoties ad nostram lesio-
nem excitatur proximus, hoc quasi non ille, sed potius in illo iusto iudicio suo ad nostram probationem,
sive iubendo, sive permittendo operetur Deus.«
1949 Die discretio ließe streng genommen Reagieren und Ignorieren gleichermaßen zu. Letzteres ist, was die
Erfahrung lehrt, mit Sicherheit die beste aber wohl auch die schwierigste Verhaltensweise.
1950 Gemeint ist nicht nur das Erlernen des monastischen Lebens durch die Regel, sondern auch durch
Vorbilder; vgl. C. W. Bynum, Docere verbo et exemplo.
 
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