7. Die Vita Gosuini prima | 507
spielte. Als Beleg hierfür können auch die Gesta abbatum Simons von Saint-Bertin
herangezogen werden, die betonen, dass Alvisus in jener unruhigen Zeit, in der
die Klöster von der dissolutio zur norma regularis disciplinae geführt wurden,
in Leonius einen geeigneten Helfer hatte.2071 Während aber die im Umkreis des
Leonius entstandenen Gesta abbatum Simons betonen, dass die Abtei von Lobbes
in äußerst schlechtem Zustand war (insbesondere ihre Besitzungen) und nur noch
wenige Mönche beherbergen konnte, zeichnen die Gesta abbatum aus Lobbes ein
ganz anderes Bild.2072 Ihr Fokus liegt auf der Einführung der Gewohnheiten von
Cluny. Besonders interessant ist dabei die Bemerkung, dass man in Lobbes weder
die Benediktregel - wie kaum jemand - noch die Gewohnheiten von Cluny - wie
nur ganz wenige Klöster - befolgte. Stattdessen seien die exempla maiorum viel
wichtiger gewesen, da man in ihnen dem Herrn gefallen könne. Viele Ältere würden
daher die conversatio und die divina officia mit viel Bedacht einhalten und sie dann
den Jüngeren beibringen.2073 Mit dieser Äußerung macht der Verfasser unmissver-
ständlich deutlich, dass der normative Charakter der Regeltexte und Gewohnheiten
in seiner Vorstellung mehr als relativ war. Viel größere Bedeutung hatte stattdessen
das Prinzip des docere verbo et exemplo. Die erzwungene Einführung der clunia-
zensischen Gewohnheiten in Lobbes wird somit vom spirituellen Standpunkt aus
stark in Frage gestellt, zumal die erwähnten Mönche aus Lüttich keinerlei Anhalts-
punkte für eine etwaige irreligiositas finden konnten. Die Gesta aus Lobbes lassen
die correctio ihrer Gemeinschaft vielmehr als ein Politikum erscheinen, dessen In-
itiator der Bischof von Cambrai war, der sich aber sogleich an Alvisus von Anchin
wandte und sich den damaligen fervor religonis zu Nutzen machte. Welche Motive
den Bischof bewegten, lässt sich nicht festmachen. Die Gesta legen viel größeren
Wert darauf, Alvisus als, wie es heißt, primus et novissimus Initiator et consumma-
tor darzustellen.2074 Eben diese Bezeichnung wurde in der Forschung immer wieder
herangezogen, um die aktive und dominierende Rolle des Alvisus in jener Gruppe
2071 Simon, Gesta abbatum, III, c. 2, S. 662: »[...] Sed cum ea tempestate, zelo Dei et virorum religiosorum
Studio ferventi, Gallicanae aecclesiae de dissolutione ad normam converterentur regularis disciplinae,
idem episcopus iam dudum sentiens prefatum Leonium regulairs temperie tyrocinii disciplinabiliter
morigeratum, animadvertit hunc monasteriali regimonio perutilem et idoneum.«
2072 Simon, Gesta abbatum, III, c. 3, S. 662.
2073 Gesta abbatum Lobbiensium, c. 18, S. 320: »Nam licet apud nos vel ad unguem regula, sicut a nullis,
vel consuetudines Cluniacenses, sicut a paucis non observarentur, maiorum tarnen exempla, in quibus
eos Domino placuisse constat, cautissime a pluribus in conversatione et in divini servicii diligenti exe-
cutione et tenebantur a senioribus et tenenda iunioribus tradebantur.«
2074 Gesta abbatum Lobbiensium, c. 29, S. 323-324: »[...] Alvisus abbas, postea Atrebatensis episcopus, qui
se in iis a principio usque ad finem primum et novissimum initiatorem consummatoremque prae aliis
exhibuerat, et alii abates suscipiuntur.«
spielte. Als Beleg hierfür können auch die Gesta abbatum Simons von Saint-Bertin
herangezogen werden, die betonen, dass Alvisus in jener unruhigen Zeit, in der
die Klöster von der dissolutio zur norma regularis disciplinae geführt wurden,
in Leonius einen geeigneten Helfer hatte.2071 Während aber die im Umkreis des
Leonius entstandenen Gesta abbatum Simons betonen, dass die Abtei von Lobbes
in äußerst schlechtem Zustand war (insbesondere ihre Besitzungen) und nur noch
wenige Mönche beherbergen konnte, zeichnen die Gesta abbatum aus Lobbes ein
ganz anderes Bild.2072 Ihr Fokus liegt auf der Einführung der Gewohnheiten von
Cluny. Besonders interessant ist dabei die Bemerkung, dass man in Lobbes weder
die Benediktregel - wie kaum jemand - noch die Gewohnheiten von Cluny - wie
nur ganz wenige Klöster - befolgte. Stattdessen seien die exempla maiorum viel
wichtiger gewesen, da man in ihnen dem Herrn gefallen könne. Viele Ältere würden
daher die conversatio und die divina officia mit viel Bedacht einhalten und sie dann
den Jüngeren beibringen.2073 Mit dieser Äußerung macht der Verfasser unmissver-
ständlich deutlich, dass der normative Charakter der Regeltexte und Gewohnheiten
in seiner Vorstellung mehr als relativ war. Viel größere Bedeutung hatte stattdessen
das Prinzip des docere verbo et exemplo. Die erzwungene Einführung der clunia-
zensischen Gewohnheiten in Lobbes wird somit vom spirituellen Standpunkt aus
stark in Frage gestellt, zumal die erwähnten Mönche aus Lüttich keinerlei Anhalts-
punkte für eine etwaige irreligiositas finden konnten. Die Gesta aus Lobbes lassen
die correctio ihrer Gemeinschaft vielmehr als ein Politikum erscheinen, dessen In-
itiator der Bischof von Cambrai war, der sich aber sogleich an Alvisus von Anchin
wandte und sich den damaligen fervor religonis zu Nutzen machte. Welche Motive
den Bischof bewegten, lässt sich nicht festmachen. Die Gesta legen viel größeren
Wert darauf, Alvisus als, wie es heißt, primus et novissimus Initiator et consumma-
tor darzustellen.2074 Eben diese Bezeichnung wurde in der Forschung immer wieder
herangezogen, um die aktive und dominierende Rolle des Alvisus in jener Gruppe
2071 Simon, Gesta abbatum, III, c. 2, S. 662: »[...] Sed cum ea tempestate, zelo Dei et virorum religiosorum
Studio ferventi, Gallicanae aecclesiae de dissolutione ad normam converterentur regularis disciplinae,
idem episcopus iam dudum sentiens prefatum Leonium regulairs temperie tyrocinii disciplinabiliter
morigeratum, animadvertit hunc monasteriali regimonio perutilem et idoneum.«
2072 Simon, Gesta abbatum, III, c. 3, S. 662.
2073 Gesta abbatum Lobbiensium, c. 18, S. 320: »Nam licet apud nos vel ad unguem regula, sicut a nullis,
vel consuetudines Cluniacenses, sicut a paucis non observarentur, maiorum tarnen exempla, in quibus
eos Domino placuisse constat, cautissime a pluribus in conversatione et in divini servicii diligenti exe-
cutione et tenebantur a senioribus et tenenda iunioribus tradebantur.«
2074 Gesta abbatum Lobbiensium, c. 29, S. 323-324: »[...] Alvisus abbas, postea Atrebatensis episcopus, qui
se in iis a principio usque ad finem primum et novissimum initiatorem consummatoremque prae aliis
exhibuerat, et alii abates suscipiuntur.«