Einleitung
Grundlagen der altorientalischen Opferschau
Bei der Opferschau handelte es sich um ein Ritual, in dem eine
Frage an die Götter formuliert wurde, deren Antwort in der
äußeren Form der Eingeweide des Opfertieres von Spezialisten
abgelesen werden konnte. Grundlegend hierfür war die
Vorstellung, daß die Götter, unter Federführung der speziell mit
der Opferschau verbundenen Götter Samas und Adad, ihre Ant-
wort unmittelbar vor der Schlachtung in die Eingeweide des
Opfertieres einschrieben. Die Opferschau bot damit die
Möglichkeit der Kommunikation mit der Sphäre des Göttlichen
mit dem Ziel, den Willen der Götter in ganz bestimmten Dingen
zu erfahren, um das eigene Handeln danach auszurichten.
Die in der Opferschau gestellten Anfragen bezogen sich fast
ausschließlich auf ein in der Zukunft liegendes Ergebnis einer
Entwicklung, die in der Gegenwart als potentiell bedrohlich
wahrgenommen wurde. Eine dieser Anfragen lautete beispiels-
weise „wird Assurbanipal, der König Assyriens, diesen
Aufstand überleben und (ihm) entkommen“. 1 Eine andere konn-
te sich etwa auf eine „Opferschau für das wohlbehaltene
(Ankommen) des Bootes des Warad-Marduk, das zum Kai von
Emar fährt“ 2 beziehen. Das Interesse der Anfragenden bezog
sich hierbei auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, wie die
Folgen von Krankheit, das Wetter, das Wohlergehen der Herden,
etc. 3 Unsere Quellen, die häufig aus dem Umfeld des Hofes
stammen, zeigen jedoch, daß insbesondere die Herrscher
Mesopotamiens ein reges Interesse an dieser Form der
Divination entwickelten und sie intensiv nutzten. 4 Hier stand das
Wohlergehen des Staates, der Erfolg in militärischen Konflikten,
die Treue der Staatsbeamten und die Gesundheit des Herrschers
im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. In den Opferschau-
Texten werden häufig die Anlässe für die Durchführung eines
Opferschau-Rituals thematisiert, und in einer Liste werden die
Gründe folgendermaßen angegeben:
1 83-1-18,199 (ABL 1368, S. Parpola, SAA X, 299 Nr. 322) Vs. 6-Rs. 2.
2 CU 101, Z. 13-15, publiziert von A. Goetze, JCS 11 (1957) Nr. 23, siehe
dort auch S. 95 Anm. 37 sowie F. R. Kraus, JCS 37 (1985) 155 mit
Anm. 62.
3 U. Jeyes, OBE 38-41 hat die in altbabylonischen Briefen, vor allem
vom Königshof in Mari, angegebenen Gründe für die Durchführung
von Opferschauen zusammengestellt.
4 Siehe B. Pongratz-Leisten, SAAS X 128-201.
ana sulum sarri ana sakap nakri ana sulum ummani ana sabat
äli ana epes sibüti ana zanän same ana sulum marsi
(BBR 79-82 3tes Frag.) 5
„Für das Wohlergehen des Königs, das Niederwerfen des
Feindes, das Wohlergehen des Heeres, das Erobem einer Stadt,
die Durchführung eines Vorhabens, den Regen (und) das
Wohlergehen eines Kranken.“
Die Zeitspanne, für die eine durch Opferschau erstellte
Voraussage Gültigkeit beanspruchen konnte, überschritt wohl
nur sehr selten den Zeitraum eines Jahres. In den Opferschau-
Anfragen des ersten vorchristlichen Jahrtausends liegt diese
akkadisch adannu genannte Zeitspanne zwischen sieben und 100
Tagen. 6 Dieser Gültigkeitszeitraum konnte einerseits schon bei
der Anfrage an den Gott festgelegt werden, wie es etwa in altba-
bylonischen Texten aus Mari und in den neuassyrischen
Opferschau-Anfragen belegt ist, andererseits beschreiben Texte
aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend, wie die adannu-
Zeitspanne anhand von Einkerbungen, Löchern oder
Keulen(markierungen) auf den Oberflächen des Leberfingers
kalkuliert werden konnte, also mithin in der Opferschau selbst
angelegt war. 7 Dieser sehr begrenzte Zeithorizont, sowie die sehr
genaue Formuliemng der Anfragen, die jede neue Situation not-
wendigerweise umstoßen mußte, zeigen eindrücklich, daß bei
der Opferschau nicht die Erlangung von Wissen über eine als
unabänderlich wahrgenommene Zukunft im Vordergrund stand,
sondern das Abschätzen der Folgen von Entwicklungen, die im
Hier und Jetzt einsetzten. Die Opferschau ist deshalb auch als
„Vergewisserungssystem“ 8 bezeichnet worden, das der
Abgleichung von geplanten Handlungen mit dem Willen der
Götter diente. Die Opferschau als Möglichkeit zur
Kommunikation mit dem Göttlichen war damit eine ungemein
stabilisierende Kraft für das Gemeinwesen, da sich die Gesell-
schaft hierdurch sicher sein konnte, im Einklang mit dem Willen
der Götter zu leben.
Darüber hinaus ist aber ein weiterer Faktor zu beachten, der
für die Beliebtheit der Opferschau grundlegend ist: Eine
Entscheidung, die auf dem Ergebnis einer Opferschau beruhte,
5 Ähnlich auch CT 20/44 i 59-61 und VAT 10100 (Nr. 70) Rs. 49-50.
6 Siehe dazu I. Starr, SAAIV, S. XVI.
7 Siehe N. P. Heeßel, in: A. Annus (Hrsg.), Divination 163-175 und U. S.
Koch, Secrets 63. In dem Text K 4061 (CT 31/16,18), bearbeitet von
U. S. Koch, Secrets Nr. 102 wird in Vs. 17’ eine Opferschau erwähnt,
die für einen Zeitraum von zwei Jahren durchgeführt wird.
8 B. Pongratz-Leisten, SAA X, 12,14.
Grundlagen der altorientalischen Opferschau
Bei der Opferschau handelte es sich um ein Ritual, in dem eine
Frage an die Götter formuliert wurde, deren Antwort in der
äußeren Form der Eingeweide des Opfertieres von Spezialisten
abgelesen werden konnte. Grundlegend hierfür war die
Vorstellung, daß die Götter, unter Federführung der speziell mit
der Opferschau verbundenen Götter Samas und Adad, ihre Ant-
wort unmittelbar vor der Schlachtung in die Eingeweide des
Opfertieres einschrieben. Die Opferschau bot damit die
Möglichkeit der Kommunikation mit der Sphäre des Göttlichen
mit dem Ziel, den Willen der Götter in ganz bestimmten Dingen
zu erfahren, um das eigene Handeln danach auszurichten.
Die in der Opferschau gestellten Anfragen bezogen sich fast
ausschließlich auf ein in der Zukunft liegendes Ergebnis einer
Entwicklung, die in der Gegenwart als potentiell bedrohlich
wahrgenommen wurde. Eine dieser Anfragen lautete beispiels-
weise „wird Assurbanipal, der König Assyriens, diesen
Aufstand überleben und (ihm) entkommen“. 1 Eine andere konn-
te sich etwa auf eine „Opferschau für das wohlbehaltene
(Ankommen) des Bootes des Warad-Marduk, das zum Kai von
Emar fährt“ 2 beziehen. Das Interesse der Anfragenden bezog
sich hierbei auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, wie die
Folgen von Krankheit, das Wetter, das Wohlergehen der Herden,
etc. 3 Unsere Quellen, die häufig aus dem Umfeld des Hofes
stammen, zeigen jedoch, daß insbesondere die Herrscher
Mesopotamiens ein reges Interesse an dieser Form der
Divination entwickelten und sie intensiv nutzten. 4 Hier stand das
Wohlergehen des Staates, der Erfolg in militärischen Konflikten,
die Treue der Staatsbeamten und die Gesundheit des Herrschers
im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. In den Opferschau-
Texten werden häufig die Anlässe für die Durchführung eines
Opferschau-Rituals thematisiert, und in einer Liste werden die
Gründe folgendermaßen angegeben:
1 83-1-18,199 (ABL 1368, S. Parpola, SAA X, 299 Nr. 322) Vs. 6-Rs. 2.
2 CU 101, Z. 13-15, publiziert von A. Goetze, JCS 11 (1957) Nr. 23, siehe
dort auch S. 95 Anm. 37 sowie F. R. Kraus, JCS 37 (1985) 155 mit
Anm. 62.
3 U. Jeyes, OBE 38-41 hat die in altbabylonischen Briefen, vor allem
vom Königshof in Mari, angegebenen Gründe für die Durchführung
von Opferschauen zusammengestellt.
4 Siehe B. Pongratz-Leisten, SAAS X 128-201.
ana sulum sarri ana sakap nakri ana sulum ummani ana sabat
äli ana epes sibüti ana zanän same ana sulum marsi
(BBR 79-82 3tes Frag.) 5
„Für das Wohlergehen des Königs, das Niederwerfen des
Feindes, das Wohlergehen des Heeres, das Erobem einer Stadt,
die Durchführung eines Vorhabens, den Regen (und) das
Wohlergehen eines Kranken.“
Die Zeitspanne, für die eine durch Opferschau erstellte
Voraussage Gültigkeit beanspruchen konnte, überschritt wohl
nur sehr selten den Zeitraum eines Jahres. In den Opferschau-
Anfragen des ersten vorchristlichen Jahrtausends liegt diese
akkadisch adannu genannte Zeitspanne zwischen sieben und 100
Tagen. 6 Dieser Gültigkeitszeitraum konnte einerseits schon bei
der Anfrage an den Gott festgelegt werden, wie es etwa in altba-
bylonischen Texten aus Mari und in den neuassyrischen
Opferschau-Anfragen belegt ist, andererseits beschreiben Texte
aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend, wie die adannu-
Zeitspanne anhand von Einkerbungen, Löchern oder
Keulen(markierungen) auf den Oberflächen des Leberfingers
kalkuliert werden konnte, also mithin in der Opferschau selbst
angelegt war. 7 Dieser sehr begrenzte Zeithorizont, sowie die sehr
genaue Formuliemng der Anfragen, die jede neue Situation not-
wendigerweise umstoßen mußte, zeigen eindrücklich, daß bei
der Opferschau nicht die Erlangung von Wissen über eine als
unabänderlich wahrgenommene Zukunft im Vordergrund stand,
sondern das Abschätzen der Folgen von Entwicklungen, die im
Hier und Jetzt einsetzten. Die Opferschau ist deshalb auch als
„Vergewisserungssystem“ 8 bezeichnet worden, das der
Abgleichung von geplanten Handlungen mit dem Willen der
Götter diente. Die Opferschau als Möglichkeit zur
Kommunikation mit dem Göttlichen war damit eine ungemein
stabilisierende Kraft für das Gemeinwesen, da sich die Gesell-
schaft hierdurch sicher sein konnte, im Einklang mit dem Willen
der Götter zu leben.
Darüber hinaus ist aber ein weiterer Faktor zu beachten, der
für die Beliebtheit der Opferschau grundlegend ist: Eine
Entscheidung, die auf dem Ergebnis einer Opferschau beruhte,
5 Ähnlich auch CT 20/44 i 59-61 und VAT 10100 (Nr. 70) Rs. 49-50.
6 Siehe dazu I. Starr, SAAIV, S. XVI.
7 Siehe N. P. Heeßel, in: A. Annus (Hrsg.), Divination 163-175 und U. S.
Koch, Secrets 63. In dem Text K 4061 (CT 31/16,18), bearbeitet von
U. S. Koch, Secrets Nr. 102 wird in Vs. 17’ eine Opferschau erwähnt,
die für einen Zeitraum von zwei Jahren durchgeführt wird.
8 B. Pongratz-Leisten, SAA X, 12,14.