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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0181
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8o

Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

Es scheint sich um eine Alternative zu handeln. Auf jeder Seite wird zwar von der
entgegengesetzten ein Moment aufgenommen. Die harmonische Verfassung leugnet
nicht das Unheil, ist zu tiefer, sehnsüchtiger Klage fähig, aber bleibt doch geborgen.
Die verzweifelte Verfassung sieht die Momente von Schönheit und Glück in der Welt;
da diese aber vergänglich, ungenügend, unverläßlich und trügerisch sind, bleibt noch
7P | in ihrem Genuß der verzweifelte Schmerz. Die eine Seite (die harmonische Verfas-
sung) beklagt den »ungesunden«, qualvollen Zustand der anderen; diese umgekehrt
verachtet die oberflächlichen Harmonievorstellungen in dem für ihren Blick sich
selbst täuschenden Scheinglück der ersten.
Die Gebrochenheit des Daseins wird als Leiden und als Schuld gesehen. Mit Lei-
den, mit dem Schreien des eben Geborenen beginnt das Leben. Das erste Bewußtwer-
den ist schon mit Keimen von Schuldbewußtsein verbunden. In der Reife der Einsicht,
mit voller Klarheit in der Achsenzeit der Weltgeschichte (im letzten Jahrtausend vor
Christus) wird offenbar: Nicht dieses oder jenes Leiden, nicht diese oder jene einzelne
Schuld (als einzelne gedacht, scheinen sie auch vermeidbar zu sein), sondern durch
sich selber im Ganzen ist das Dasein aus seinem Ursprung her Leiden und Schuld (und
dazu Kampf und Zufall).
Buddhismus und Christentum geben Antworten, auf Grund deren sie Wege der Er-
lösung zeigen. Beide sprechen in Chiffern, in bezwingendem Ernst, gerichtet auf die
Wirklichkeit der Transzendenz und die Wirklichkeit der menschlichen Existenz. Die
Chiffern zeigen die Herkunft des Unheils und die Erlösung. Ich beschränke mich auf
das Christliche.
Hier ist von Erbsünde, von Gnade und Versöhnung die Rede. Es sind Auffassungen
und Antworten auf die menschliche Grundsituation. Diese ist als solche philosophisch
für jeden Menschen faßlich und verstehbar. Aber in dieser spezifischen Antwort des
Offenbarungsglaubens, ausgesprochen in den dogmatischen Thesen der Glaubenser-
kenntnis, zeigt sich die Unverständlichkeit, die nur für den Glauben vielleicht hell sein
kann. Er ist ein in sich geschlossener Glaubenskreis: durch Gnade wird der Glaubende
sich erst als Sünder erkennbar und zugleich wird ihm die Rettung geboten in der Versöh-
nung mit Gott. Wer nicht in diesen Kreis eintritt, der muß in dessen Chiffern deren
Realisierungen sehen und damit notwendig verwerfen: die mit der Existenz des Men-
schen sich zeigende totale Schuld wird zur substantiellen Erbsünde; die Chiffer der Un-
sterblichkeit wird zur Auferstehung der Leiber, die stattfindet, wenn die Posaunen die
Gräber öffnen zum jüngsten Gericht; der Mensch Jesus als eine prophetische Gestalt,
die wie keine andere revolutionär in die unermeßliche Größe des Unheils, in die Tiefe
der Liebe, in die Radikalität der notwendigen Umkehr leuchtet, wird zum Christus als
der realen Inkarnation Gottes. Wer aber, weil er in den Glaubenskreis nicht hineinzu-
springen vermag, daher diese Objektivierungen auf andere Weise, wahrscheinlich un-
zureichend, deutet, der ist doch auch von ihnen noch angesprochen, wenn sie ihm wie-
der zu reinen Chiffern werden. Sie bewegen ihn zur kritischen Besinnung auf sich selbst.
 
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