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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0198
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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| Vorwort

Die Möglichkeit, zu glauben, ist heute in zahllosen Menschen verborgen. Nicht mehr
durch gegenwärtige Propheten findet dieser Glaube das ihm entsprechende Wort. Er
ist zuerst in den Einzelnen wirklich, aber in der Anonymität. Ihm hilft philosophisches
Denken.
Unsere Grundfragen sind Fragen der Menschheit geworden. Die kirchliche Auto-
rität biblischen Offenbarungsglaubens tut mit ihren gegenwärtigen Gestalten immer
weniger Menschen in ihrem Innersten genug. Sie wird nie die Menschen des Erdballs,
nicht einmal die des Abendlands einigen. Durch bald Zwei jahrtausende hat der kirch-
lich geformte christliche Offenbarungsglaube nicht das Ethos der Wahrheit so zu ver-
wirklichen vermocht, daß er durch Handlungen, Lebenspraxis, Denken, persönliche
Gestalten Überzeugungskraft für alle gewonnen hätte.
Nur in der Freiheit können Menschen einmütig werden. Wir suchen heute den Bo-
den, auf dem Menschen aus allen Glaubensherkünften sich über die Welt hin sinn-
voll begegnen könnten, bereit, ihre je eigene geschichtliche Überlieferung neu anzu-
eignen, zu reinigen, zu verwandeln, aber nicht preiszugeben. Der gemeinsame Boden
für die Vielfachheit des Glaubens wäre allein die Klarheit der Denkungsart, die Wahr-
haftigkeit und ein gemeinsames Grundwissen. Erst diese ermöglichen die grenzen-
lose Kommunikation, in der die Glaubensursprünge vermöge ihres Ernstes einander
anziehen.
Die heute allverbreitete Sprache der rationalen Aufgeklärtheit verbindet nicht. Sie
macht vielmehr beschränkt und unfrei. Sie liefert die Mittel des sophistischen Scheins,
in dem der Betrugszustand der Welt sich erhält. Allein das unendlich fortschreitende,
in jeden Horizont eintretende, nie vollendete Aufklären macht frei.
Man behauptet, die moderne Wissenschaft werde uns Menschen | einigen. Sie ist 8
in der Tat für alle gültig, wird mit Recht allgemein anerkannt. Doch sie verbindet die
Menschen nur in ihrem Verstand, nicht als sie selbst. Sie bringt mit der Einmütigkeit
in ihrem Erkennen nicht auch schon den gemeinsamen Boden des Lebens selber.
Das wissenschaftliche Wissen und das technische Können sind eine bewunde-
rungswürdige, hinreißende und noch für den Widerstrebenden unumgängliche Sa-
che. Aber diese ist in ihren Folgen und ihrem Selbstverständnis zweideutig. Sie ist zur
Gefahr für den Menschen und für sein bloßes Dasein geworden. Ihre Helligkeit ist eine
paradoxe Verdunkelung des Wesentlichen. Aber auch aus diesem Dunkel, wie aus je-
dem früheren, vermag der Mensch, der im Philosophieren eigentlich Mensch wird, zu
seinem ewigen Ursprung zurückzufinden. In ihm kann er sich gründen, wenn er in der
 
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