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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0215
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114 Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
(2) Das ist auf einfache Weise in kurzen Sätzen durch alle historischen Zeiten ge-
schehen, ein Zeichen, daß es den Menschen als Menschen angeht. Wir wählen einige
Beispiele:
(a) Ein mittelalterlicher Spruch lautet:
29 | Ich komme, ich weiß nicht woher,
Ich bin, ich weiß nicht wer,
Ich sterb, ich weiß nicht wann,
Ich geh, ich weiß nicht wohin,
Mich wundert’s, daß ich fröhlich bin.29
Der Spruch ist nicht »christlich«.30 Denn der Offenbarungsglaube gibt auf alles eine
Antwort. Er lebt aus den herrlichen Verheißungen und würde vielleicht seine Antwort
schließen: mich wundert’s, daß ich traurig bin.31
Aus der Frage kam bei nordischen Menschen die Bereitschaft, christlichen Verhei-
ßungen zu folgen. Beda32 erzählt (Kirchengeschichte 2. Buch, Kap. 13) :33 Im Rat eines
angelsächsischen Königs, der 627 n. Chr. über Annahme oder Ablehnung des Chris-
tentums entscheiden sollte, sprach einer der Fürsten: Mein König, das gegenwärtige
Leben der Menschen auf Erden scheint mir im Vergleich zu jener Zeit, die uns unbe-
kannt ist, so zu sein, wie wenn du dich zur Winterszeit mit deinen Fürsten zu Tisch set-
zest. Mitten auf dem Herde brennt das Feuer und wärmt den Saal, draußen aber tobt
der Sturm des Schneegestöbers. Da kommt ein Sperling herangeflogen und durchfliegt
schnell, an der einen Tür herein, an der andern hinaus, den Saal. Während des Augen-
blicks, wo er drinnen ist, bleibt er vom Wintersturm verschont. Hat er jedoch rasch
den kleinen Raum, wo es angenehmer ist, durchflogen, so entschwindet er deinen Au-
gen und kehrt aus dem Winter in den Winter zurück. So ist auch dieses Menschenle-
ben nur wie ein einziger Augenblick. Was ihm vorangegangen ist und was ihm folgt,
wissen wir nicht. Wenn uns also diese neue Religion größere Gewißheit darüber ver-
schafft, so ist es meines Dafürhaltens recht, ihr zu folgen.
Die Überlegung dieser Männer, warum sie es mit der christlichen Religion versu-
chen sollen, ist ohne Glaubensimpuls überaus rational aus der Sorge um das, was nach
dem Tode sein könnte. Aber das Gleichnis vom Sperling zeigt, wie ernst ihnen in der
Reflexion die unheimliche Situation unseres Daseins erschien.
(b) Was die Welt, in der wir uns finden, im Ganzen ist, woher sie kommt, wohin sie
geht, das wissen wir nicht, und werden wir nie wissen. Aber die Frage schon bringt den
Menschen in eine neue innere Verfassung. Antworten sind gegeben worden, die in frü-
hen Zeiten schon nichts anderes waren als die Vertiefung der Frage. Im Rigveda, den
30 ältesten Texten Indiens, finden sich folgende Sätze (Deu|ßen, Upanischaden, Kleine
Ausgabe S. 3 ff. Oldenberg, Buddha, S. 17 ff.):34
»Da war nicht Nichtsein und auch Sein nicht,... nicht Tod und nicht Unsterblich-
keit war damals ... Von keinem Wind bewegt das Eine atmet... Nichts anderes war als
dies nur[«]35... [»]Doch wem ist auszuforschen es gelungen, wer hat, woher die Schöp-
 
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