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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0525
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

greifen des Eigentlichen triumphieren. Dann aber verraten wir es. Was wir wissen woll-
ten, verbirgt sich erst recht. Immer wieder möchten wir es haben, und sei es durch
bloßes Nennen, aber indem wir es wieder hineingezogen haben in das Denkbare, ver-
lieren wir es im gleichen Augenblick.
Daher dient dieses mit sublimen dialektischen Mitteln zum totalen Scheitern ge-
triebene Denken im asiatischen Philosophieren nur zur Abwehr und Vorbereitung, ist
nicht selber eine Weise der Erfüllung. Diese wird dort auf dem Wege des Meditierens
als Bewußtseinsverwandlung gewonnen. Von ihr her und auf sie hin zu sprechen, ist
dort der Sinn der begrifflichen Spekulation, des gegenüber dem Verstandesdenken
neuen Denkens. Lebenwährende Meditationsübungen sind der Weg und bringen zur
Erfüllung jener Wahrheit, vor der alles gegenständlich denkende Wissen nur Unwis-
sen ist.
Asiatische Philosophie nennt sie Leerheit. Auch für unser Denken wird - ohne jene
Bewußtseinswandlung - im Transzendieren über alle Chiffern das, was gesucht ist, in
der Tat vollkommen leer, weil unser immer gegenständliches Denken es nicht zu er-
reichen vermag. In seiner Reinheit vom Gegenständlichen ist es für dieses Denken
Nichts. Ist es möglich, dort den Anker zu werfen, wo kein Boden, kein Halt, sondern
Nichts ist? Für unser denkendes Bewußtsein, das Etwas erkennen will, offenbar nicht.
Ein anderes Bewußtsein ist uns unbekannt, weil wir jene Bewußtseinsverwandlungen
der Meditation weder vollziehen noch ihnen Glauben schenken.
Aber ist es in unserem hellen Bewußtsein auf dem Wege über das Denken möglich,
daß von dorther, wo »Nichts« ist, das Sein ist, unser Dasein in ein anderes Licht gerückt
und daß unsere Freiheit, im Raum der Welt und der Sprache der Chiffern, über sie hin-
aus erfüllt wird ohne Meditationspraxis? Die Frage wird beantwortet durch existenti-
elle Erfahrung, aktiv und passiv zugleich. Die Antwort zeigt sich in der Weise, wie wir
mit unserer realen Erkenntnis umgehen, wie wir in der Chiffernsprache uns bewegen,
wie unser Bewußtsein, in der Welt zu sein, seinen Zustand erfährt, wie wir überall Maß-
stäbe auftreten sehen, ohne zu erkennen woher, und eine Führung erfahren, ohne zu
erkennen wie.
419 Dieser Wirklichkeit dient das andere Denken, das Denken der | philosophischen
Spekulation, in dem wir mit den Asiaten uns treffen. Es ist das Denken, das sich selbst
aufhebt. Dieses, das, von unserer verständigen Auffassung der Dinge her gesehen, ei-
gentlich kein Denken mehr zu sein scheint, da es nichts erkennt, ist selber eine andere
Meditation ohne Verwandlung des Bewußtseinszustandes. Es ist in Jahrtausenden so
reich entwickelt, wie die Musik. Aber es ist schwerer zugänglich. Wer hineingelangt,
macht die einzigen Erfahrungen des spekulativen Denkens. Sie sind dem Anschein
nach ohnmächtiger, schwächer, blasser als die massiven Erfahrungen der Versen-
kungstechnik und der Exerzitien. Aber der Anschein trügt. Die Erfahrung der Speku-
lation hat gerade wegen ihrer technisch-psychologischen Wirkungslosigkeit ein um
so reineres existentielles Gewicht.
 
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