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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0529
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

durch sie wird der Sinn aller kritisch vollzogenen Erkenntnis und allen Tuns und Han-
delns in der Welt an die Grenzen seiner Bedeutung gebunden.
(4) Die Seinsspekulation ist wesentlich unterschieden durch die Weise, wie sie ein
Faktor der Existenz im Dasein wird. Sie kann sich selbst absolut setzen und als Erfül-
lung in diesem Leben gewählt werden (um den Preis des Versäumens der existentiellen
Wirklichkeit und damit am Ende des Verlustes der Wahrheit dieser Spekulation selber).
Sie kann als Zwischenaugenblick erlaubt und zu einer unter anderen merkwürdigen
Denkerfahrungen werden. Sie kann, einmal vollzogen, als bleibender Hintergrund des
existentiellen Bewußtseins in allen Dingen Maß und Grenze zur Geltung bringen, die
Rangordnungen wesentlich werden lassen.
(5) Die Seinsspekulation ist die Erhellung des Nichtwissens an der Grenze und die
Aufhebung des verschleiernden die Grenze nicht kennenden Unwissens dadurch, daß
sie die Unsichtbarkeit, Undenkbarkeit, Unsagbarkeit des Seins zur Geltung bringt.
Logisch ist dieses Nichtwissen die Überwindung der Zweiheit von Subjekt und Ob-
jekt im Denken, von Einem und Anderen im Gedachten auf dem Wege entfalteter Be-
grifflichkeit hin zum Begriffslosen, Bildlosen, Raumlosen, Zeitlosen, wo alles, Ich und
Gegenstand verschwinden.
Dies erfüllte Nichtwissen ist in der abendländischen Welt in großer Dichtung und
Philosophie als der Seinsgrund wirksam, der die dichterischen Gestalten und die gedach-
ten Gebilde umfängt. Er macht sie sinnvoll in ihrer Begrenzung. Es geschieht einzig still
und indirekt bei Shakespeare und bei Kant. Wird jene Grenze ungefühlt und ungedacht,
und erlischt das Licht von ihr her, dann fällt Dichtung in Realismus oder Phantasterei,
fällt Denken (auch in so genialen Figuren wie etwa Fichte und Hegel) als Gesamtverfas-
sung zurück in die Enge eines, sei es auch noch so großartigen, bedeutende Inhalte und
echtes Wissen und wirksame Spekulation in sich hineinnehmenden Scheinwissens.

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| 6. Verkehrungen der Seinsspekulation

(1) Die Selbstaufhebung der Chiffernwelt vermöge des Durchbruchs der Existenz zur
Transzendenz verwirklicht sich nur als ein Grenzprozeß. Im zeitlichen Dasein läßt sie
die Grenze nicht überschreiten. Der Denkende bleibt als Dasein und Existenz faktisch
im Kampf der Mächte.
In unserem an Leibhaftigkeit und Gegenständlichkeit gebundenen Denken ist der
Drang untilgbar, was immer wir an der Grenze spüren, sogleich in die uns faßlichen
Formen innerhalb der Grenze einzufangen. Dadurch wird der Sinn des Durchbruchs
verkehrt.
Etwas anderes ist es, daß wir nach der Selbstauflösung der Chiffernwelt immer wie-
der den Schritt in die Chiffern zurück tun müssen. Dieser im Dasein notwendige Schritt
ist nur dann nicht Verkehrung, wenn mit ihm der Denkende weiß, was er tut, und an
dem unverkehrten Durchbruch einen erleuchtenden Rückhalt hat.
 
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