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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
dringt, sprechen wir in einem umfassenden Sinn von unserer methodologischen Ver-
gewisserung.
Sie bringt uns in Distanz zu allem, was wir denken, tun, sind. Aber nur wenn wir zu-
gleich ganz dabei bleiben, werden wir in der Distanzierung nicht nur befreit, sondern
frei, weil erfüllt aus dem Grunde jener Erscheinungen. Dann senken wir uns reiner und
433 entschiedener ein in das, von dem wir uns distanzieren. Wir werden erst | recht mit uns
identisch, wenn wir so zur Wahrhaftigkeit über uns und das, was wir tun, gelangen.
Was nur gedacht wird, ohne sich auszuweisen in der Weise seines Gedachtseins, das
konnte als Erfindung des Geistes blühen, mußte aber unbemerkt vieldeutig wirken, exis-
tentiell gewichtig oder gewichtslos, wahr oder wahrheitswidrig. Was getan wurde, ohne
sich seiner bewußt zu sein, das konnte in seiner Unmittelbarkeit groß und bewunde-
rungswürdig sein, führte aber durch seinen Ruhm auf gute wie schlimme Bahnen.
Erst in der Reflexion auf das, was gedacht, denkend getan, gehandelt wurde, erst
durch die Klärung des Sinns der Geltung dessen, was wir sagen und hören, werden wir
philosophisch wahrhaftig. Wir werden frei von den unbefragten Selbstverständlich-
keiten, frei von dem »festen Behaupten«,540 von dem diktatorischen Denken in Macht-
sprüchen, frei von dem Zwang der logischen Konstruktion, deren Voraussetzungen
nicht bewußt geworden sind. Wir werden befreit aus allen bestimmten Kategorien, aus
den Fesseln der Sprache und der eigenen Gedanken. Wir unterwerfen uns keinem Ge-
danken außer in den stets auffindbaren Grenzen seines Geltungssinnes.
(2) Plato ist der früheste Philosoph, bei dessen Studium wir das methodologische
Bewußtsein des Philosophierens gewinnen. Daher die wunderbare Befreiung, die
durch ihn bis heute geschehen kann. Plato erwachte aus dem Schlummer der voreili-
gen Selbstverständlichkeiten, in dem bei der Großartigkeit ihrer spekulativen Visio-
nen die Vorsokratiker blieben - wie Kant aus dem Schlummer erwachte, in dem seit
Descartes die Metaphysik und die moderne Naturwissenschaft verhängnisvoll als ei-
nes genommen, dogmatisch gedacht wurden.
Wenn Plato im Timäus die Welt in den Gestalten der Dinge und in ihrem Gewor-
densein konstruiert, so weiß er, daß er keine wissenschaftliche Erkenntnis vollzieht,
sondern plausible Geschichten (eikotes mythoi) erzählt.541
Wenn er im Staat seinen Staatsentwurf entwickelt, so weiß er, daß er kein Programm
aufstellt, wie der Staat richtig zu machen sei. Vielmehr entwirft er das Abbild der ewi-
gen Idee des Staats, das für den Philosophen vor Augen steht, aber nicht absolut ver-
bindlich als diese Staatsgestalt ist. Verbindlich ist vielmehr der Grundgedanke, der in
der Mitte der Schrift vom Staate steht: nur wenn Philosophen Könige oder Könige Phi-
losophen werden, kann es einen wahren Staat geben.542 Daher kann ein wahrer Staat
434 auch nicht durch ein Programm oder | die Verwirklichung dieser, wie man es später
nannte, Utopie entstehen. Die Methode ist nicht das Machen eines Staats, sondern die
Erziehung der Philosophen: die dann, an kein Gesetz und kein Abbild und keinen Ent-
wurf gebunden, aus der Anschauung der Idee selber jeweils das Rechte finden. Daher
Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
dringt, sprechen wir in einem umfassenden Sinn von unserer methodologischen Ver-
gewisserung.
Sie bringt uns in Distanz zu allem, was wir denken, tun, sind. Aber nur wenn wir zu-
gleich ganz dabei bleiben, werden wir in der Distanzierung nicht nur befreit, sondern
frei, weil erfüllt aus dem Grunde jener Erscheinungen. Dann senken wir uns reiner und
433 entschiedener ein in das, von dem wir uns distanzieren. Wir werden erst | recht mit uns
identisch, wenn wir so zur Wahrhaftigkeit über uns und das, was wir tun, gelangen.
Was nur gedacht wird, ohne sich auszuweisen in der Weise seines Gedachtseins, das
konnte als Erfindung des Geistes blühen, mußte aber unbemerkt vieldeutig wirken, exis-
tentiell gewichtig oder gewichtslos, wahr oder wahrheitswidrig. Was getan wurde, ohne
sich seiner bewußt zu sein, das konnte in seiner Unmittelbarkeit groß und bewunde-
rungswürdig sein, führte aber durch seinen Ruhm auf gute wie schlimme Bahnen.
Erst in der Reflexion auf das, was gedacht, denkend getan, gehandelt wurde, erst
durch die Klärung des Sinns der Geltung dessen, was wir sagen und hören, werden wir
philosophisch wahrhaftig. Wir werden frei von den unbefragten Selbstverständlich-
keiten, frei von dem »festen Behaupten«,540 von dem diktatorischen Denken in Macht-
sprüchen, frei von dem Zwang der logischen Konstruktion, deren Voraussetzungen
nicht bewußt geworden sind. Wir werden befreit aus allen bestimmten Kategorien, aus
den Fesseln der Sprache und der eigenen Gedanken. Wir unterwerfen uns keinem Ge-
danken außer in den stets auffindbaren Grenzen seines Geltungssinnes.
(2) Plato ist der früheste Philosoph, bei dessen Studium wir das methodologische
Bewußtsein des Philosophierens gewinnen. Daher die wunderbare Befreiung, die
durch ihn bis heute geschehen kann. Plato erwachte aus dem Schlummer der voreili-
gen Selbstverständlichkeiten, in dem bei der Großartigkeit ihrer spekulativen Visio-
nen die Vorsokratiker blieben - wie Kant aus dem Schlummer erwachte, in dem seit
Descartes die Metaphysik und die moderne Naturwissenschaft verhängnisvoll als ei-
nes genommen, dogmatisch gedacht wurden.
Wenn Plato im Timäus die Welt in den Gestalten der Dinge und in ihrem Gewor-
densein konstruiert, so weiß er, daß er keine wissenschaftliche Erkenntnis vollzieht,
sondern plausible Geschichten (eikotes mythoi) erzählt.541
Wenn er im Staat seinen Staatsentwurf entwickelt, so weiß er, daß er kein Programm
aufstellt, wie der Staat richtig zu machen sei. Vielmehr entwirft er das Abbild der ewi-
gen Idee des Staats, das für den Philosophen vor Augen steht, aber nicht absolut ver-
bindlich als diese Staatsgestalt ist. Verbindlich ist vielmehr der Grundgedanke, der in
der Mitte der Schrift vom Staate steht: nur wenn Philosophen Könige oder Könige Phi-
losophen werden, kann es einen wahren Staat geben.542 Daher kann ein wahrer Staat
434 auch nicht durch ein Programm oder | die Verwirklichung dieser, wie man es später
nannte, Utopie entstehen. Die Methode ist nicht das Machen eines Staats, sondern die
Erziehung der Philosophen: die dann, an kein Gesetz und kein Abbild und keinen Ent-
wurf gebunden, aus der Anschauung der Idee selber jeweils das Rechte finden. Daher