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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0563
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4Ö2

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Die Frage, ohne die das Wagnis der Freiheit kein Wagnis wäre, bleibt: Ist der Weg
des Menschen wie eine Flamme, die sich selbst verzehrt? Wird, weil dies geschieht,
sein hoher Aufschwung schließlich der Gang zum Selbstmord des Daseins der Mensch-
heit?
Durch das Jahrtausend, das die Erfahrungen der Juden in den Schriften der Bibel
niedergelegt hat, wurde an den Tag gebracht, was, in Spannung mit der griechischen
Philosophie und Dichtung, seither die Abendländer bestimmt hat.
Der Mensch ist mehr und grundsätzlich anders als irgendein Lebewesen, und er ist
mehr als alles, was er von sich erkennt, wenn er sich zum Gegenstand macht in An-
thropologie, Psychologie, Soziologie.
Der Mensch ist als Mensch kein in seiner Art wohlgeratenes Tier mit besonderen
Eigenschaften, mit den vorbestimmten, in den Generationen sich wiederholenden
gleichen Lebensbahnen. Er ist vielmehr ein im Sinne bloßen Lebens brüchiges Wesen,
das zu dem für ihn Höchsten bestimmt ist, zum Wagnis aus seiner Freiheit. Darum
kann er keine endgültige sich nur wiederholende Gestalt finden. Er geht durch immer
neue Weisen seines Scheiterns den Weg durch die Welt, im hohen Schwung seiner
Hoffnung, aber ohne zu wissen wohin.
(5) Die Bestimmung des Menschen:
466 Diese alte Formulierung meint das Schicksal, das ihm verhängt, | und die Aufgabe,
die ihm gegeben ist: Das Bewußtsein der Bestimmung bewegt sich in der Polarität zwi-
schen dem Schonbestimmtsein und der Forderung des freien, sehenden Entschei-
dens.
Das Schonbestimmtsein führt zu den Notwendigkeiten, denen der Mensch unter-
worfen ist: dem erkennbaren Natursein, der Geschichte, dem in der Ordnung des Kos-
mos oder des Seins Vorgestellten, dem göttlichen Willen. In jedem dieser Fälle wird
der Mensch zur Marionette, entweder der Naturgesetze oder der Geschichte, oder der
Vorherbestimmung Gottes, oder des Schicksals (Moira, Weltvernunft, Vorsehung). Der
Mensch kann sich nur fügen, unterwerfen, einstimmig mit dem werden, was ohne ihn
ist, oder revoltieren, wodurch er vollends nichtig wird.
Die Forderung dagegen bedeutet, daß der Mensch selbst mitentscheidet, was aus
ihm wird und aus dem, was im Umkreis seiner Wirkungsmöglichkeit liegt. Was die Auf-
gabe in concreto ist, kann ihm wohl als »Forderung des Tages«, nie aber endgültig klar
werden. Er ergreift die eigene Aufgabe in der Welt aus seinem Glauben inmitten der
Menschen, die anderen Glaubens an andere Aufgaben sich binden.
Weil aber der Mensch in seiner Freiheit sich nicht durch sich selbst frei weiß, ist er
sich, im Unterschied von der Notwendigkeit, an die er preisgegeben wäre, aus dem Ur-
sprung bewußt, den er in der Chiffer »Notwendigkeit« ausspricht. Diese Notwendig-
keit ist weder Gesetz noch Willkür. Sie ist mehr als Notwendigkeit, die nur als Katego-
rie benutzt wird, um mit ihr als Chiffer das Unbegreifliche seiner Bestimmung zu
berühren.
 
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