Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0568
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

467

Dieses Bemühen verlangt Besonnenheit und Ruhe in der Leidenschaft zur Wahrheit.
Denn schon im unkritischen Wahrheitsfanatismus wird sie unwahr und geht ver-
loren.
Wahrheit scheint gegen das, was wir Glück nennen, scheint gegen unsere Wün-
sche gleichgültig. Sie kann anblicken als strahlende, uns beschwingende Göttin und
sie kann das Antlitz der versteinernden Gorgo tragen.
Zur Wahrhaftigkeit gehört Mut. Philosophie lehrt, vor dem Äußersten die Augen
nicht zu verschließen. Sie verlangt, im Sehen standzuhalten.
Die zweite Antwort ist:
Jeder wesentliche Gedanke der Philosophie weist über sich hinaus in die Wirklich-
keit, die erst den Sinn des Philosophierens erfüllt. Dort geschieht, was als gemeinter
Inhalt einer Aussage nicht mehr zu treffen ist.
Das Philosophieren hat gleichsam zwei Flügel, der eine schlägt in | der Kraft des 472
mitteilbaren Denkens, in der Lehre eines Allgemeinen, der andere schlägt mit solchem
Denken in der Existenz des Einzelnen. Nur beide Flügel gemeinsam gewinnen den Auf-
schwung.
In der Besinnung wird Klarheit gewonnen für das, was Wirklichkeit nur hat in der
Lebenspraxis.
Philosophie führt dorthin, wo jeder Einzelne sich geschenkt wird, nicht durch Phi-
losophie, sondern durch Transzendenz, und wo er durch seine Existenz entscheidet.
Wer einmal aus der Quelle der Philosophie getrunken, Wahrheit gekostet hat, kann
sie nie mehr entbehren. Ihre Einsicht kann noch dann helfen, wenn ich mir ausbleibe.
Denn ich weiß immer noch durch sie, was möglich ist. Ich habe durch sie Geduld ge-
lernt und Bescheidung, bin aber ständig aufgerufen zur Aktivität, denkend mich vor-
zubereiten und mich zu erinnern.
(2) Die Frage nach der Hilfe der Philosophie beschwört die Rettung, während sie
die Ausweglosigkeit vor Augen stellt.
Wenn in unserem Zeitalter alles zu verfallen scheint unter dem Schleier des tech-
nischen Fortschritts, des ins Maßlose wachsenden Lebensstandards, der militärischen
Macht - wenn die Wirkung und die Hervorbringung der großen Chiffern ausbleibt -
wenn das Licht der Transzendenz in der existentiellen Dunkelheit aufgeklärten Ver-
standeswissens erlischt - wenn das Dasein zum Teil vergewaltigt, zum anderen Teil
der Leerheit preisgegeben, in allem nivelliert wird - wenn der Gang der Dinge einen
allgemeinen Betrugszustand erzeugt, eine Verlogenheit oder doch Vergessenheit -
wenn die großen Schrecken der Vernichtung bevorstehen durch Atombomben und
durch totale Herrschaft und wenn, da die Apparate totaler Herrschaft in mehreren
Exemplaren entstehen, diese auch bei Unterwerfung der freien Welt im Zusammen-
stoß miteinander am Ende doch die totale atomare Vernichtung vollziehen - wenn
alle Zeichen dahin deuten, daß wir auf diesen Weg gezogen werden, zunächst zur
Wahl zwischen totaler Vernichtung und einem Leben, das nicht mehr lebenswürdig
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften