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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0584
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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Wenn die Einheit, die Substanz, das Gleichbleibende der Offenbarung Gottes tat-
sächlich in keinem Satz, in keiner Verkündigung, in keiner Theologie als es selber da
ist, wenn vielmehr alle Sprache Chiffer bleibt, wenn Worte Gottes, Handlungen Got-
tes, Wille Gottes, selber schon, wenn ausgesprochen, Auslegungen in Chiffern sind,
können dann nicht am Ende philosophische Auslegung und theologische Auslegung,
die ohnehin von vornherein eine der anderen sich bedienen, sich treffen?
(c) Das denkende Umgehen mit der Bibel und dem, wovon in ihr die Rede ist, ist
Vor-Augen-Bringen des dort Gesehenen und Erfahrenen und Gedachten, von den
wundersamen alten biblischen Geschichten und den historischen Berichten über die
Kundgabe der Propheten und die frommen Lieder und Schriften bis zu dogmatisch
gemeinten Sätzen.
Das existentiell interessierte, nicht bloß historisch zusehende Auslegen hebt das
Gewicht des von dorther Sprechenden heraus aus der Beliebigkeit bloß historischer
Fakten. Die Kraft und Wesentlichkeit der Auslegung entspringt ihrem Ernst und zeigt
sich in praktischen Folgen.
Wesentliche Auslegung ist zugleich Aneignen und Verwerfen.
Das Studium lehrt uns den Grund des historischen Wissens. Wir gewinnen Kennt-
nisse, Vorstellungen, Gedanken. Das historische Verstehen ist ein Mittel der reinen
Vergegenwärtigung des Dokumentarischen, zum distanzierenden Sehen dessen, was
uns angeht oder nicht angeht.
Aneignen aber ist mehr als historisches Verstehen. Aneignen heißt im Kampf der
Chiffern diese zur Sprache eines Wirklichen werden zu lassen. Sie trifft uns, soweit wir
existentiell offen sind. Sie wird | abgewehrt, wenn sie als Sprache eines Unwirklichen
oder einer fremden Macht oder als Verführung ins Dunkle, Unwahrhaftige, Böse er-
fahren wird. Aneignung ist Sache des Einzelnen, der je einzigen unvertretbaren Exis-
tenz, die in der Bibel zu der für sie ernstesten Sprache gekommen ist.
Wir studieren die Texte in ihrem historischen Zusammenhang, die Wahrheit aber
hören wir zeitlos. Wir erreichen den existentiellen Sinn im historischen Studium, je
mehr wir durch das historisch Faktische (an Realität und gemeintem Sinn) das Unhis-
torische und Überhistorische, das doch kein allgemeiner Begriff und in keinem allge-
meinen Denken angemessen gegenwärtig wird, zu eigen gewinnen. Dieses Überge-
schichtliche ist das Ewige, in dem kein Fortschritt ist, das in der Zeit erscheint und in
unabsehbarer, je ursprünglicher Wiederholung sich erneuert.
Wir müssen uns hüten, dieses Ewige, das jederzeit sprach, nun etwa in der Sprache
unserer Zeit als endgültig wahr ausgesprochen zu finden. Ohne uns selbst in unserer
Erscheinung je überblicken zu können, wissen wir doch, daß wir als solche Erschei-
nung geschichtlich sind, auch in unseren Vorstellungen und Denkformen, auch auf
dem Grunde einer großen, nie genügend anzueignenden Denküberlieferung.
Wenn wir daher auch vermöge unserer Einsicht uns gegen die Fixierung von Dog-
men und Bekenntnissen wehren, so doch in dem Bewußtsein des Bleibenden im Wan-

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