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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0593
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Unter den Verdiensten der Kirchengründer der ersten Jahrhunderte ist das größte
vielleicht die Einprägung der Bibel, der ganzen Bibel Alten und Neuen Testaments, in
Glauben und Denken und Deuten des Abendlandes. Die Versuche, die biblische Reli-
gion auszuscheiden, das Alte Testament ganz zu verwerfen, aus dem Neuen Testament
eine Reihe jetzt zu ihm gehörender Schriften fernzuhalten, in der Absicht, ein ver-
meintlich reines Christentum zu gewinnen, sind damals gescheitert. Sie stoßen bis
heute aber hier und dort auf Beifall und konnten sogar die Sympathie Adolf Harnacks
finden.606 Wem es ernst ist mit dem Gehalt biblischen Gottesglaubens, der steht mit
Staunen und Schrecken vor diesem Phänomen, in dem heterogene Motive, von libe-
ralistischer Gemütlichkeit über abstrakten Asketismus bis zum Rassenwahn, zu einer
giftigen Mischung sich treffen.
(b) Die Offenbarung wird zur Chiffer der Offenbarung
Es ist eine Frage vom Philosophieren her: kann etwa nicht nur der Offenbarungs-
504 inhalt, sondern die vom Glauben behauptete Reali | tät der Offenbarung selber zur Chif-
fer werden? Die Offenbarung wird, soweit unsere Einsicht reicht, dem Philosophieren-
den nie als Realität begegnen, es sei denn, daß er das Philosophieren preisgibt. Aber ist
der Versuch hoffnungslos, die Realität der Offenbarung, die für den Offenbarungsglau-
ben besteht, selber als Chiffer zu verstehen? Die Offenbarung schien uns entweder
Realität: dann muß sie selber da sein und braucht kein Zeichen. Oder sie ist gar nicht
Realität: dann werden für sie vom Glaubenden Zeichen gefunden. Auch für ihn wäre
die Realität nicht selber, sondern in Zeichen und Chiffern da. Noch mehr: Realität wäre
nicht im eigentlichen Sinne, sondern als Chiffer gemeint.
Was heißt das, die Offenbarung werde zur Chiffer? Kann eine Chiffer der Transzen-
denz ihr Gewicht dadurch gewinnen, daß sie als Realität in der Welt leibhaftig erfah-
ren wird mit dem begleitenden Wissen, daß sie nicht Realität in diesem Sinn ist?
Etwa die Vorstellung von Moses auf dem Sinai.607 Das Ereignis bis in die Einzelhei-
ten hat eine Kraft der Sprache, die fühlbar macht, daß es sich in den zehn Geboten um
mehr handelt als um gesetzliche Vorschriften, die abänderbar wären. Woher die ein-
zige Macht der sittlichen Forderung in der Unbedingtheit, hinaus über ihre allgemeine
Formulierbarkeit? Die Chiffer der Realität einer Handlung Gottes gibt eine Antwort.
Kinder nehmen solche Chiffern tief ergriffen auf wie Märchen, bei denen die Frage
nach Realität und Nichtrealität noch gar nicht in Klarheit gestellt wird. Sie verlieren
ihre Wirkungskraft für den Erwachsenen nicht, wenn sie ihnen eindeutig nicht mehr
als Realität gelten.608 Aber die Realität einer erzählten Geschichte von Akten Gottes, ei-
nes göttlichen Ereignisses, eines mehr als menschlichen Menschen, bleibt als Chiffer.
Ihre Realität ist aufgehoben und doch als Chiffer noch eine Sprache. Was das Wesen
der Chiffern ist, die leibhaftige Realität abzustreifen, das wird in der Realität als Chiffer
zu dem, was nur paradox sich sagen läßt: eine Realität unter Abstreifung der Realität.
Aber ist solche Auffassung nicht eine der Abschwächungen der Offenbarung? Es
ist jedenfalls eine Verwandlung des Offenbarungssinns. Die Offenbarung als Chiffer
 
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