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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0600
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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wirklichen. Wo er aber aus dem Ursprung gegenwärtig ist, vollzieht er die Kritik der
Abgleitungen seit Anbeginn. Kritik und Verzicht sind sinnvoll nur aus der Substanz
des Glaubens.
Wie aber könnte dieser Ernst in die Erscheinungen kirchlicher Gemeinschaft tre-
ten? Ohne solche Gemeinschaft würde er erlöschen. Die Gemeinschaft ist auf die
Dauer Bedingung seines Lebens. Der Einzelne als bloßer Einzelner ohne Gemeinschaft
ist die für ihn selber erschreckende Ausnahme. Die Gemeinschaft, mag sie Kirche oder
Synagoge heißen, ist die unumgängliche Überlieferungsform der Gehalte des Glau-
bens und des Ethos.
Ist sie auch gebunden an Riten und Liturgien, an Dogma und Bekenntnis? Daß sie
dies nicht ist, liegt im Prinzip des Protestantismus, das allein ihm sein Eigenrecht ge-
genüber der katholischen Kirche verleiht. Die Kirche der Protestanten hat einen ande-
ren Sinn als ihn die der Katholiken hat. Sie ist Gemeinschaft in Institutionen und For-
men, die als solche nicht heilig sind, aber in denen vom Glauben gekündet wird.
| 3. Die Situation nach Kierkegaards Kampf gegen die Kirche
(1) Kierkegaards Kampf
Kierkegaard hat das Christentum des Neuen Testaments ernst genommen: Gott ist
Mensch geworden. Die Konsequenzen sind unerbittlich. Kierkegaard ermöglichte den
Glauben für den denkenden Menschen als einen Glauben kraft des Absurden. Er ent-
faltete einen eindringlichen Begriffskreis, der das moderne protestantische Denken,
soweit es sich dialektisch nennt, bestimmt hat. Er sah von Anfang an die ungeheure
Differenz zwischen diesem neutestamentlichen Christentum und der Realität des
kirchlichen Christentums, zwischen Christentum und Christenheit.621 Ein Jahr vor
seinem Tode hat Kierkegaard schließlich gegen die Kirche den in unserem Zeitalter
radikalsten Kampf geführt. Denn dieser Kampf nahm seine Rechtfertigung aus dem
Innerlichsten des Christlichen selber. Er erklärte die bestehende christliche Kirche für
Verfälschung und Verrat des Christentums.
Es handelt sich bei diesem Kampfe nicht um eine späte Abirrung Kierkegaards, son-
dern um das Ergebnis einer unaufhaltsamen Reife seiner Einsicht. Seine dichtende
Konstruktion des Christentums durch dialektisch-theologisches Denken (mitgeteilt
vor allem durch die Pseudonyme Climacus und Anticlimacus) hatte diese Konsequenz.
Kaum je ist ein solcher Schritt in die Öffentlichkeit des Kampfes so lange, so zögernd,
so bedachtsam vorbereitet wie dieser Akt Kierkegaards, der nun, als Kierkegaard sich
entschlossen hatte, mit einer Vehemenz ohnegleichen stattfand, in höchster Bewußt-
heit, der Situation angemessen, den geschichtlichen Augenblick erfüllend.
Kierkegaard stellt die gegenwärtige Realität bloß: Alle nennen sich Christen, das
Christentum selber aber ist nicht mehr da. Einer »christlichen« Welt ist zu zeigen, daß
sie ganz und gar nicht christlich, sondern eine Täuschung ist. »Nicht ein einziger von

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