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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0614
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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würde, da könnte dieses Glück in der Realität gar nicht erreicht werden. Die Voraus-
setzung der Notwendigkeit solcher Herrschaft für das Wesen der Menschen rechtfertigt,
ohne öffentlich ausgesprochen zu werden, das Regime der Despoten für diese selber.
Aber in solcher Herrschaftsweise sind weder Menschenglück noch freie Glaubens-
schritte des Menschen auf seinem Wege, noch Bestand einer Daseinsordnung möglich.
Gegen die Theorie des Großinquisitors steht entscheidend die Tatsache, daß es doch
immer Menschen sind, die herrschen. Die Herrschenden selber sind Wesen von jener
Art, die nach der Voraussetzung der Herrschaft bedürfen, weil sie nicht frei sein können.
Die dem Idealtypus der Theorie entsprechende Verwirklichung sieht etwa so aus:
Der Anspruch in der Welt, im Gehorsam gegen eine Herrschaft als im Gehorsam ge-
gen Gott oder gegen die Geschichte leben zu sollen, geht nicht von Gott oder von der
Geschichte aus, sondern von Menschen. Diese brauchen in der Realität ihrer Herr-
schaft weder an Gott noch an die Geschichte zu glauben oder können doch ihren Glau-
ben in der Praxis vergessen. Sie sehen die jeweiligen Realitäten daraufhin an, wie sie
ihnen zur Gewinnung, Erweiterung, Stabilisierung ihrer Macht dienlich sein können,
und welche von ihnen dieser Macht gefährlich sind. Sie formulieren jeweils die An-
wendung ihres Glaubens als Parteilinie oder als unfehlbare Kirchenentscheidung. Ihre
Berufung auf eine ihnen erteilte Totalvollmacht wird tatsächlich von vielen geglaubt.
Dieser Glaube wird gesteigert durch die Gewißheit, mit bei der faktischen Macht und
Gewalt zu sein, die da ist oder kommen wird. Der enorme Zulauf zur Kirche, nachdem
durch Konstantin das Christentum Staatsreligion geworden war,651 ist dafür ebenso
kennzeichnend, wie das Faktum, daß fast alle zu Kommunisten (in Deutschland zu Na-
tionalsozialisten) werden im Augenblick, wo die totale Herrschaft siegt. Der Anspruch
des ausschließen|den Glaubens in Verbindung mit der Gewißheit, bei der Macht zu
sein, ist ein schauriger Tatbestand, der in gewissen Zeiten der Geschichte infolge der
Summierung von Torheit, Feigheit vor der Wahrheit, Ungerechtigkeit, Willkür wie eine
Sturmflut auftritt und alles überschwemmt. Aus der Verzweiflung an der selbstver-
schuldeten geistigen und politischen Anarchie erfolgt der Sturz in den blinden, tota-
len Gehorsam. Er ist der Todfeind des Menschen, der mit der totalitären Ordnung, so-
weit sie gelingt (mit dem technischen Zeitalter schien ihr Gelingen möglich), auch die
Chance von Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit nimmt.
In der Tat beruht all unser Tun darauf, was wir von den Menschen, und das heißt
von uns selbst, erwarten. Wer am Menschen verzweifelt, verzweifelt an sich selbst. Ver-
achtung des Menschen ist Verachtung seiner selbst.
Wenn wir nicht dieser Verzweiflung und nicht dieser Verachtung verfallen, so le-
ben wir durch Hoffnung, dieses nach Auffassung von Griechen trügerische Geschenk
aus der Büchse der Pandora.
Ohne Trug ist die Hoffnung nur, soweit sie sich bewährt durch Einsicht in die Rea-
litäten, sich nichts verschleiert, keine Utopie zuläßt. Nur die Weite unseres Bewußt-
seins läßt uns klarwerden, wo wir stehen und wofür wir leben und wirken und sterben

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